Die Heuchelei des Westens
Der Gaza-Krieg vertieft die Kluft zwischen Politik und Gesellschaft – und spaltet gleichzeitig das Mitte-links-Lager.
Nur wenige Themen haben in jüngster Zeit die linke Mitte in den westlichen Demokratien so sehr gespalten wie der Gaza-Krieg. In europäischen und amerikanischen Großstädten waren Massendemonstrationen, gegen welche die Polizei mit aller Härte vorging, an der Tagesordnung. Zugleich liefern sich in den Medien Politiker und Kommentatoren des politischen Geschehens regelmäßig hitzige Debatten.
Wie auch der israelisch-palästinensische Konflikt selbst hat diese Spaltung nicht erst mit den entsetzlichen Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober 2023 oder mit der stark unverhältnismäßigen Reaktion Israels begonnen. Der seit fast zwei Jahren andauernde Krieg gegen die dicht besiedelte palästinensische Enklave hat die ohnehin schon bestehende Kluft zwischen Führungselite und Wählerschaft weiter vertieft. Der Grund liegt auf der Hand: die krasse Diskrepanz zwischen Rhetorik und Realität.
Diese Diskrepanz ist Teil einer umfassenderen Legitimitätskrise der entwickelten Demokratien. Das Gerede der politischen Klasse von gemeinsamen Werten, universellen Prinzipien und Rechtsstaatlichkeit ist völlig abgekoppelt von den offenkundigen Realitäten vor Ort – von der Politik und vom Verhalten der israelischen Regierung. Wenn das demokratische Führungspersonal dieser Entkopplung nicht entgegenwirkt und sich weiterhin weigert, seinen Grundsatzerklärungen reale Taten folgen zu lassen, um diese Werte zu wahren und Verstöße gegen sie zu ahnden, dürften sich die Spannungen weiter verschärfen. Zugleich drohen Zynismus und Distanz in der Öffentlichkeit zuzunehmen und die Mitte-links-Parteien drohen ihre Anhängerschaft an rechtsextreme Kräfte zu verlieren, die den Status quo glaubwürdiger und überzeugender kritisieren.
Es gibt wohl kein sozialwissenschaftliches Experiment, das die Scheinheiligkeit des Westens gegenüber Palästina so einwandfrei entlarvt wie Russlands 2022 begonnener Krieg gegen die Ukraine. Die russischen Angriffe auf zivile Infrastruktur und Ballungsgebiete – von europäischen und amerikanischen Staats- und Regierungschefs zu Recht verurteilt – wurden nicht nur ausgeblendet, als Israel solche Angriffe in Gaza ausführte, sondern Israel bekam von den gleichen Staats- und Regierungschefs sogar noch Rückendeckung durch Solidaritätsbesuche. Erst jetzt, da nicht mehr zu überdecken ist, welches Leid Israels Vorgehen der Zivilbevölkerung zufügt, zeigen sich erste Risse in der Fassade des Establishments…
Vollständiger Beitrag – Internationale Politik und Gesellschaft (IPG) / Matthew Duss – 25.08.2025

