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Naomi Klein im Interview: „Die deutsche Erinnerungskultur hat eine eingefrorene Qualität“

Die Autorin und Umweltaktivistin Naomi Klein über das schwierige deutsch-israelische Verhältnis, die Singularität des Holocaust und ihr Buch zu Verschwörungstheorien

Frau Klein, in Ihrem jüngsten Buch „Doppelgänger“ untersuchen Sie den Aufstieg rechter Verschwörungstheorien und wie progressive Kräfte ungewollt dazu beitrugen. Inwieweit knüpfen die Themen Ihres Buches an jüngere Debatten im deutschen Kontext an?

Nun, es spiegelt die diversen Kämpfe, die in Deutschland um Holocaust-Erinnerung geführt werden. In erster Linie die Frage, ob wir die Schrecken des Holocausts als unbegreifliches Übel außerhalb der Geschichte verstehen oder als etwas Alltäglicheres, etwas Unmittelbareres. Je weiter wir uns zeitlich vom Holocaust entfernen, desto mehr setzt sich die Vorstellung seiner Unbegreiflichkeit durch. Je weniger Menschen sich an seine Alltäglichkeit erinnern, daran dass sie selbst Teil dieser Gesellschaft waren, die den Holocaust erst ermöglicht hat, desto schwieriger wird es, diese Form der Exotisierung vorzunehmen, die gerade stattfindet. Das spiegelte sich jüngst in der Diskussion um Masha Gessen. Für Hannah Arendt war es in den 1950er Jahren normal zu sagen, dass israelische Politiker sich wie Faschisten verhalten. Wenn Masha Gessen 2023 etwas Ähnliches sagt, heben Leute den Zeigefinger und sagen: „Wie können Sie es wagen?“

Warum, glauben Sie, kommen diese Fragen gerade jetzt an die Oberfläche?

Das ist kein Zufall. Die Leitfrage, die in der Luft liegt, lautet, ob wir den europäischen Faschismus als radikalen Bruch verstehen oder als Kontinuität. Also entweder als Bruch, der eine Art ursprüngliche Unschuld wiederherstellt. Oder eben als etwas, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des europäischen Kolonialismus zieht. Etwas, das sich bis zur Geburt der modernen Welt zurückverfolgen lässt, zur Inquisition, den Kreuzzügen, zum Ringen um Afrika, zum transatlantischen Handel mit versklavten Menschen. Eine Kontinuität, die in Form des Holocausts gewissermaßen nach Europa zurückkehrte. Wenn es sich hingegen um einen radikalen Bruch handeln sollte, dann gehört die Geschichtsschreibung zwei Staaten: Deutschland und Israel. Sie sind damit durch eine Art Doppelgänger-Tanz verbunden und über diese Version von Geschichte in der Lage, jedwede Einschränkung geltend zu machen, dahingehend, wer was sagen darf. Die Israelis haben sich jüngst in der UNO gelbe Sterne angeheftet und gesagt, die Hamas sei schlimmer als die Nazis. Sie können die Holocaust-Erinnerung je nach Belieben missbrauchen, da sie behaupten, dass sie ihnen gehöre. Ich hingegen glaube, dass es sich um ein global geteiltes Erbe handelt…

Hier der vollständige Beitrag – Frankfurter Rundschau – 11.01.2024