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Wieder einmal definiert Deutschland, wer ein Jude ist| Teil I & II

Wieder einmal definiert Deutschland, wer ein Jude ist | Teil I ( Teil II nachfolgend)
Original: Once Again, Germany Defines Who Is a Jew | Part I
Deutsche Übersetzung / siehe Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost

George Prochnik, Eyal Weizman & Emily Dische-Becker

Die Aufarbeitung der deutschen Geschichte des Grauens begann als ein Projekt der linken deutschen Zivilgesellschaft. Heute ist sie zu einem hochbürokratisierten Hebel des Staates geworden, der zunehmend einer reaktionären Agenda dient. Im Vorfeld der diesjährigen seismischen Ereignisse haben in Deutschland drei mit Antisemitismusvorwürfen verbundene Kontroversen das Verhältnis des Staates zu seiner Erinnerungskultur, zu Israel, Migration und der kolonialen Vergangenheit neu gestaltet.

Im Sommer 2020 stand der in Kamerun geborene Philosoph Achille Mbembe kurz davor, vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesrepublik Deutschland von der Ruhrtriennale ausgeladen zu werden, da Mbembe angeblich Israel mit dem Apartheidstaat Südafrika verglichen habe und ein Befürworter von Boykott, Divestment und Sanktionen (BDS) sei. Die Anschuldigungen erwiesen sich im ersten Fall als wahr, im zweiten bestenfalls als unzutreffend.

Im Sommer 2021 entbrannte eine hitzige Debatte über einen polemischen Artikel des australischen Genozidforschers A. Dirk Moses, der als Reaktion auf Mbembes Behandlung in der Schweizer Online-Zeitschrift Geschichte der Gegenwart veröffentlicht wurde. Moses erklärte, dass Menschen wie Mbembe verfolgt würden, wenn sie bestimmte Glaubensartikel in Frage stellten, wie etwa die unkritische Unterstützung Israels durch den deutschen Staat, die Grundlage der deutschen Nachkriegsidentität. In ähnlicher Weise argumentierte Moses, dass man heute in Deutschland Gefahr läuft, aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen zu werden, wenn man die Einzigartigkeit des Holocaust in Frage stellt oder ihn mit der völkermörderischen kolonialen Vergangenheit Deutschlands in Verbindung bringt. Moses nannte diese Glaubensartikel den “deutschen Katechismus”.

Im Sommer 2022 entflammte eine weiteren Kontroverse über antisemitische Bilder auf einem großen politischen Banner, das von einem indonesischen Künstlerkollektiv entworfen und vor dem Hauptgebäude der Documenta, der alle fünf Jahre in Kassel stattfindenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst, angebracht worden war. Während das Banner (das Hunderte von Figuren enthielt) die Ungerechtigkeiten des von den USA unterstützten Suharto-Regimes thematisierte, waren zwei seiner Motive in einer Weise dargestellt, die der klassischen antisemitischen Propaganda in Europa entspricht. Nachdem das Transparent aus der Ausstellung entfernt wurde, entwickelte sich der kuratorische Fehler, der die Anbringung ermöglicht hatte, zu einem Aufschrei nicht nur gegen die Documenta als Ganzer, sondern auch gegen den allgemeinen postkolonialen Diskurs in Deutschland.

Am 20. Juli sprach George Prochnik mit Emily Dische-Becker und Eyal Weizman – zwei Forscher und Aktivisten – für die Printausgabe von Granta. Am 1. November, inmitten der andauernden israelischen Luftangriffe und der Bodeninvasion in Gaza sowie dem gleichzeitigen staatlichen Vorgehen gegen die deutsche Zivilgesellschaft, sprach Prochnik erneut mit Dische-Becker und Weizman.

George Prochnik:

Emily, können Sie zunächst beschreiben, wie die deutsche Erinnerungspolitik die Antisemitismus-Kontroverse in Deutschland umfunktioniert hat, um eine rechtsgerichtete Agenda zu fördern? Was ist der historische Kontext für diese erstaunliche Wendung der Ereignisse?

Emily Dische-Becker:

Die staatliche Erinnerungskultur florierte nach der deutschen Wiedervereinigung 1990, was zum Teil mit der Notwendigkeit einer neuen Art von Staatskunst zu tun hatte. Der wiedervereinigte deutsche Staat musste vermitteln, dass er keine Bedrohung für andere Länder oder jüdische Gemeinden darstellte, und das bedeutete, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, um den Befürchtungen zu begegnen, ein wiedervereinigtes Deutschland würde ein bedrohlich mächtiges Deutschland sein. Die Erinnerungskultur hatte damals noch nicht viel mit Israel zu tun – das kam später und wurde durch Merkels Rede vor der Knesset 2008 deutlich, als sie die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson erklärte.

Eyal Weizman:

In einer weiteren historischen Volte bezieht eine zunehmend aggressive Version der israelischen Hasbara – also der Propaganda – ihre Legitimation aus der deutschen Erinnerungskultur. Um einen Begriff unseres Freundes, des Philosophen Adi Ophir, aufzugreifen, hat der Staat Israel eine “diskursive Eisenkuppel” errichtet. Während der Iron Dome ursprünglich ein Raketenabwehrsystem war, das in der Lage war, Raketen aus der Luft abzuschießen, ist das diskursive Äquivalent eine präventive Praxis der Delegitimierung, die darauf abzielt, Kritik an Israel abzuschießen, ehe sie Schaden anrichtet.

Während die Unterstützung von BDS oder eine vermeintliche Nähe zu BDS in Deutschland als antisemitisch gilt, hat die israelische Regierung sechs palästinensische Menschenrechtsorganisationen, deren Hauptaufgabe darin besteht, Beweise gegen israelische Verbrechen zu sammeln, um sie in internationalen Foren vorzulegen, ohne Beweise als “Terrororganisationen” bezeichnet. Zu den Gruppen auf dieser Liste gehört die palästinensische Menschenrechtsgruppe Al-Haq, mit der Forensic Architecture (FA) eine langfristige Partnerschaft eingegangen ist und den Fall der gezielten Tötung der Al Jazeera-Journalistin Shireen Abu Akleh im vergangenen Jahr mituntersucht hat. Während kein anderes Land diese Bezeichnung akzeptiert und selbst die CIA eingeräumt hat, dass es dafür keine Beweise gibt, drängt die deutsche Innenministerin Nancy Faeser die deutsche Regierung, die Bezeichnung zu akzeptieren. Ob sie nun im Ausland als “antisemitisch” oder innerhalb Palästinas als “terroristisch” bezeichnet werden, werden Positionen, die legitimen Widerstand gegen Israel leisten, so als “völlig inakzeptabel” gebrandmarkt.

Prochnik:

Wenn wir einen Augenblick zurückgehen: Wie wurde die deutsche Vergangenheitsbewältigung von deutschen Juden gehandhabt, bevor sie vom Staat vereinnahmt wurde? Man hat das Gefühl, dass die 1980er Jahre eine entscheidende Zeit der Neuorientierung waren.

Weizman:

In den 1980er Jahren wurden zwei gegensätzliche Tendenzen in Bezug auf die überragende Bedeutung von Geschichte und Erinnerung sichtbar. Einerseits erhielt in dieser Periode die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zum ersten Mal seit dem Holocaust eine hörbare öffentliche Stimme und wurde so zu einem echten politischen Subjekt. Zwei Ereignisse, die sich innerhalb von sechs Monaten ereigneten, machten diese neue Handlungsfähigkeit deutlich. Erstens weigerte sich die Jüdische Gemeinde Deutschlands im Mai 1985, Präsident Ronald Reagan nach Bergen-Belsen zu begleiten, eine Reise, die in aller Eile organisiert worden war, nachdem dessen Besuch auf dem Bitburger Friedhof – wo unter den dort begrabenen Wehrmachtssoldaten auch SS-Angehörige waren – für Kritik gesorgt hatte. Ziel der Reise war es, den Eindruck zu erwecken, dass die Gedenkaktivitäten des Präsidenten ausgewogen seien. Die Jüdische Gemeinde widersetzte sich dem Druck, das in ihrem Namen durchgeführte Programm des deutschen Staates mitzutragen. Sie verstand, dass die Gedenkveranstaltung dazu diente, das historische Vergessen in Deutschland zu beschleunigen.

Zweitens stürmten im Herbst 1986 Vertreter der Jüdischen Gemeinde bei der Frankfurter Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders umstrittenem Stück Müll, Stadt und Tod, in dem eine Figur namens “Reicher Jude” vorkommt, die Bühne. Fassbinder selbst war bereits seit vier Jahren tot. Als er noch lebte, bezeichnete er das Stück als Kritik an dem in der deutschen Gesellschaft nach wie vor vorhandenen Antisemitismus. Die örtliche Jüdische Gemeinde weigerte sich, dieses Argument zu akzeptieren, und lehnte es ab, das Recht auf freie Meinungsäußerung, wie es in diesem Fall von der Linken artikuliert wurde, als vorrangig vor der Würde der Opfer zu betrachten.

Von ebenso großer Bedeutung ist die Art und Weise, wie die deutsche Presse auf diese beiden Kontroversen reagierte. Weil ihr nichts Besseres einfiel, versuchte die konservative Presse im Fall von Bitburg die Juden mit der Begründung, es würde nur den Antisemitismus schüren, vor einer Kundgebung gegen diesen Besuch zu warnen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die führende konservative Zeitung des Landes, erklärte, die Teilnahme an den Protesten könne Juden und Israel schaden. Im Fall von Müll, Stadt und Tod war die Presse gerne bereit, Fassbinder als gefährlichen Antisemiten zu verunglimpfen, und fügte so seinem Sündenregister, das mit seinen anderen wohlbekannten Lastern schon lang genug war, eine weitere Sünde hinzu.

Es steht nun außer Zweifel, dass Fassbinder mit der Benennung einer seiner Figuren als Reichen Juden in den Bereich des Antisemitismus vorstieß. Man kann Verschiedenes für diesen Schritt anführen, das intertextuelle Beziehungen zur größeren Geschichte des Theaters und zu anderen jüdische Figuren einschließen könnte, Figuren, die bei Shakespeare, Marlowe, Bulgakov und anderswo auftauchen – verhasste ebenso wie humane -, aber ich verstehe vollkommen, warum sich die Jüdische Gemeinde durch dieses Stück bedroht fühlte. Ob es nun ein antisemitisches Stück ist oder nicht, so steht es in der westlichen antisemitischen Tradition der Darstellung des Juden. Interessanter finde ich jedoch die Art und Weise, wie die deutsche Presse gleichzeitig behauptete, dieses linke Werk würde die Grenzen des zivilisierten Diskurses sprengen, während sie gleichzeitig ihren eigenen Wunsch nach Vergebung für die Nazis legitimierte, wie etwa Bundeskanzler Helmut Kohl, der in seinem Bemühen um nationale Versöhnung den Standpunkt vertrat, dass auch die Nazis unsere Kinder seien und wir sie deshalb akzeptieren müssten.

Die Frage des Antisemitismus wurde damit zu einem Teil der innerdeutschen Diskussion um deutsche Identität. Und diese Diskussion markierte den Beginn eines Trends, den Antisemitismus als politischen Spielball zwischen Links und Rechts zu benutzen, der bis heute anhält, ohne Rücksicht auf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland und anderswo. Mit anderen Worten: In Deutschlands Verhältnis zum Antisemitismus geht es nicht um die Juden.

Meiner Meinung nach hängen Fassbinders Reicher Jude und die Karikatur des Juden auf dem Transparent von Taring Padi am Eingang der Documenta im Sommer 2022 ebenfalls miteinander zusammen. Auf dem Banner war ein orthodoxer Jude mit blutunterlaufenen Augen und einem SS-Abzeichen auf dem Hut abgebildet, der im Hintergrund einer ansonsten gegen Suharto gerichteten Bildmontage ruchlos intrigiert.

Ebenso wie die Jüdische Gemeinde von Kassel fühlte ich mich gekränkt. Wir alle wollten, dass dieses Bild abgehängt werde. Die Kuratoren dieser Ausstellung, ein indonesisches Kollektiv namens Ruangrupa, das den Inhalt des Banners zuvor nicht richtig berücksichtigt hatte, schlossen sich diesem Urteil an. Sie entfernten das Bild. Doch auf dem Hintergrund dieser Empörung bildete sich eine Welle von Ausschlüssen und Repressionen, die vor allem von Meinungsmachern in den deutschen Medien und einigen deutschen Politikern vorangetrieben wurde. Es war, als ob das Banner nur bestätigte, was der Staat schon die ganze Zeit über linken Antisemitismus gesagt hatte: dass postkoloniales Denken als solches per Definition antisemitisch sei. (In Deutschland wird der Begriff Postkolonialismus sowohl für antikoloniales als auch für dekoloniales Denken und Handeln verwendet.) In dieser aufgeladenen Atmosphäre hatten wir das Gefühl, dass es unweigerlich zu körperlicher Gewalt kommen würde. Und so war es dann auch bald. Die Ausstellungsräume unserer palästinensischen Freunde auf der Documenta wurden gestürmt und mit Graffiti verunstaltet, die Todesdrohungen enthielten.

Letztlich hat die Documenta-Episode dazu beigetragen, dass die Rechte behaupten konnte, es gäbe einen schmalen Grat zwischen dem Sprechen über die Geschichte des Kolonialismus – einschließlich Deutschlands eigener kolonialer Geschichte des Völkermords in Namibia – und einer Kritik an Israel, die unweigerlich antisemitische Tropen hervorbringt.

Sowohl Fassbinders Reicher Jude als auch Taring Padis Karikatur basieren auf antisemitischen Themen, die sich durch Zeit und Generationen ziehen. Die Kontroversen um sie zeigen jedoch, dass der deutsche Mainstream im Umgang mit Antisemitismus entscheidet, welche Erscheinungsformen des Antisemitismus er bekämpfen und welche er schützen will. Fast zeitgleich mit der Documenta-Kontroverse weigerte sich ein deutsches Gericht trotz Kampagnen und rechtlicher Schritte, ein antisemitisches Wandgemälde aus dem 13. Jahrhundert zu entfernen, das die “Judensau” in der Wittenberger Stadtkirche darstellte.

Die meisten dokumentierten Angriffe antisemitischer Natur gehen auf das Konto von Personen und Gruppen, die der weißen Vorherrschaft huldigen, doch der deutsche Staat konzentriert sich auf den Antisemitismus von links – den es durchaus gibt. Sie benutzen diese Beispiele, um die gesamte Ideologie der Linken und die Migration aus dem globalen Süden in Misskredit zu bringen, der sozusagen den Antisemitismus von außen nach Deutschland importiert.

Prochnik:

Die Kontroverse um das Fassbinder-Stück spielte die Meinungsfreiheit gegen die Würde der Opfer aus. Wie stellt sich dieser Konflikt auf dem Hintergrund zur heutigen Debatte dar?

Weizman:

Die Behauptung, Meinungsfreiheit müsse im Zusammenhang mit Hatespeech und der Sicherheit und Würde der Überlebenden beurteilt werden, erscheint mir nicht falsch. Erinnerung wird immer so instrumentalisiert wie die Vergangenheit verarbeitet und erzählt wird, und sie äußert sich immer im Verhältnis zu den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen. Ich will mich nicht dazu äußern, ob man das Fassbinder-Stück aufführen oder nicht aufführen hätte sollen. Für mich hier von Bedeutung ist, dass es die Jüdische Gemeinde selbst war, unabhängig von israelischer Politik, die in den 1980ern auf das Ereignis reagierte. Angesichts der Unterstützung rechtsextremer Parteien in ganz Europa durch Israel, frage ich mich, was manche israelische Minister wohl gesagt hätten, wenn sie von Reagan und Kohl aufgefordert worden wären, sie zum Bitburger Friedhof zu begleiten.

Gegenwärtig bedeutet das Bündnis zwischen Deutschland und Israel, dass der deutsche Nationalismus rehabilitiert wird und unter der Ägide der deutschen Unterstützung für den israelischen Nationalismus zu neuem Leben erblüht.

Dische-Becker:

Das Problem mit der deutschen Erinnerungskultur in ihrer heutigen Ausprägung ist, dass sie den deutschen Nationalismus nicht mehr wirksam unterläuft. Stattdessen ist sie nunmehr gleichbedeutend mit staatlich sanktionierter nationaler Identität und als solche ein Werkzeug zur Disziplinierung und zum Ausschluss unliebsamer Minderheiten und ärgerlicher Ideen. Ich unterscheide zwischen den frühen Nachkriegsjahrzehnten, als die deutsche Erinnerungskultur eine Initiative der Zivilgesellschaft war, um die deutsche Weigerung, sich mit den Verbrechen der Vergangenheit auseinanderzusetzen, anzuprangern, und dem, was wir heute haben: ein Vehikel, um Deutschland als die zivilisierteste Nation anzupreisen, die einen Genozid verübt und sich danach dieser gigantischen Gräueltat gestellt hat. Zusammen mit dem Kampf gegen einen Antisemitismus, der bei allen Gegnern Israels vorausgesetzt wird, sind es die Palästinenser, die (wegen ihrer Gegnerschaft gegen den selbsternannten jüdischen Staat), als größte Gefahr für die Juden ausgemacht werden. Hier übertreibe ich etwas, aber ich sehe in der Tat diese grundlegende Dynamik als einen Schlüsselfaktor dafür, dass die deutsche Erinnerungskultur nicht mehr selbstkritisch ist, sondern vielmehr sich zu einer rückbezüglichen, selbstgefälligen Haltung entwickelt hat. Nicht mehr nur pro forma ist sie zu einer Plattform geworden, von der aus andere Leute – einschließlich Juden – dazu angehalten werden, sich mit dem jüdischen Nationalismus zu verbünden.

Hier ein Beispiel dafür, was ich meine: Im Jahr 2020 gründete eine Gruppe jüdischer, in Israel geborener Student_innen an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin einen Lesearbeitskreis mit dem Namen “School for Unlearning Zionism” (Schule zum Verlernen des Zionismus), der sich aus Menschen mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen und Politisierungsgraden zusammensetzte und zusammengekommen war, um sich mit der nationalen Mythologie auseinandersetzten, mit der sie aufgewachsen waren. Eine der Studentinnen machte die Prämisse der Gruppe zum Thema ihrer Abschlussarbeit. Verschiedene übereifrige Funktionäre, die es nunmehr für ihre Pflicht halten, jede Art von Kritik an Israel als antisemitisch zu skandalisieren, sorgten für Aufregung. Die Finanzierung der Abschlussausstellung wurde gestrichen, und das Ereignis ging in die Chronologie der antisemitischen Vorfälle des Jahres ein, die von der Amadeu Antonio Stiftung veröffentlicht wurde, einer der führenden antirassistischen Organisationen in Deutschland. So wird ein Arbeitskreis israelischer Studenten und Studentinnen neben Vorfällen aufgeführt, bei denen ein jüdischer Beter vor einer Hamburger Synagoge auf den Kopf geschlagen und jüdische Gräber mit Hakenkreuzen verunstaltet wurden. In einem Interview einige Monate später bat Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und die Bekämpfung des Antisemitismus – der dieses Amt seit seiner Gründung innehat, nachdem bei einer Berliner Demonstration gegen die Entscheidung von Präsident Trump, die US-Botschaft in Israel 2018 nach Jerusalem zu verlegen, eine israelische Flagge verbrannt wurde -, dass linke Israelis bitte etwas Sensibilität für die historische Verantwortung Deutschlands zeigen und maßvoll über Israel sprechen sollten, wenn sie sich in Deutschland aufhalten.

Prochnik:

Wissenschaftler_innen, die sich an diesen Debatten beteiligen, haben mit mir über die Panik gesprochen, die in Deutschland durch die harte Rechtswende des israelischen Nationalismus ausgelöst wurde – die Erosion einer bestimmten Figuration des Juden – und darüber, wie es für sie war, von nicht-jüdischen deutschen Zionisten gegeißelt zu werden, für die Kritik an Israel ein Zeichen von Schwäche ist und ein Abweichen von der dominanten historischen Erzählung ein Symptom von Inauthentizität. Solche Erfahrungen sind typisch für viele Zielpersonen der so genannten “Antideutschen”, die sich nach dem Fall der Mauer gegründet haben. Die Antideutschen waren zunächst eine nominell linke Bewegung, die die Entstehung eines Vierten Reiches in einem vereinten Deutschland verhindern wollte. In der Praxis (und zunehmend in den letzten Jahren) sieht die Bewegung die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber den Juden als eine pauschale Verpflichtung, Israel vor jeglicher Kritik zu schützen.

Wieder einmal könnte man sagen, dass Deutschland eine monolithische Mythologisierung der jüdischen Identität betreibt, und wieder einmal, wie der Aufsatz von A. Dirk Moses nahelegt, ist das Endergebnis dieses Prozesses die deutsche Erlösung auf der neuen Weltbühne. Die Erlösung wird durch eine Aufwertung der Juden erreicht, die den Ausschluss anderer Traumata erfordert: insbesondere des Traumas, das den Palästinenser_innen von Israel zugefügt wurde.

Dische-Becker:

Eran Schaerf, ein in Israel geborener Künstler, der seit vierzig Jahren in Deutschland lebt und arbeitet, hat letztes Jahr in einem verblüffenden Vortrag gesagt, dass sich viele Deutsche nicht vorstellen können, dass sie nicht in allen Erinnerungen der israelischen Juden eine Rolle spielen – dass es andere Erinnerungen gibt, auch an Gewalt, die sich nicht auf Deutsche beziehen. Es ist fast so, als gäbe es eine monogame Beziehung zwischen Juden und Deutschen, wie es die Judaistin Hannah Tzuberi formulierte, und jeder andere sei ein Eindringling.

Es sollte angemerkt werden, dass viele deutsche Juden, einschließlich jüdischer Funktionäre in staatlich geförderten Organisationen, ebenfalls mit Wut reagieren, wenn Israelis in Deutschland sich zu Fällen äußern, bei denen Einzelpersonen oder Gruppen wegen ihrer Haltung zu Israel des Antisemitismus beschuldigt werden. Diese Funktionäre behaupten, die fraglichen Israelis seien nicht repräsentativ für die deutsch-jüdische Meinung und verstünden nichts von Antisemitismus. Als dominante Gruppe und Mehrheit in Israel aufzuwachsen, unterscheidet sich sehr von der Erfahrung, in Deutschland nach dem Holocaust zu leben. Aber Israelis kennen Israel, das für viele deutsche Juden vor allem eine idealisierte Versicherungspolice ist.

Prochnik:

Können Sie Beispiele dafür nennen, wie die deutsche Erinnerungskultur in einem offenkundig politischen Bereich noch regressiver wird?

Weizman:

Ein Beispiel wäre die veränderte Haltung gegenüber Antisemitismus, die im Diskurs der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) deutlich geworden ist. Abgesehen davon, dass man sich gegen das Holocaust-Gedenken ausspricht, versucht die Partei auch, ihre Form des Rassismus und ihre protofaschistischen Einstellungen schmackhafter zu machen, indem sie eine antimuslimische Allianz bildet. Die AfD behauptet, dass der Antisemitismus importiert wurde und wie ein Virus über die Migrationskanäle nach Deutschland gekommen ist. Diese Tendenz, die Ursprünge des Antisemitismus zu externalisieren, besteht weit über die AfD hinaus und manifestiert sich im gesamten politischen Spektrum (wie auch in anderen rechtsextremen Organisationen in Europa und anderswo) und führt dazu, dass Migranten regelmäßig mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert werden. Die promigrantische Linke, der man vorwirft, antisemitische Tendenzen zu fördern, sieht sich ebenfalls darin verstrickt. Diese ganze Verurteilung dient natürlich dazu, den Widerstand gegen die Ankunft der Migrant_innen selbst zu fördern, die zur Verkörperung der demographischen Wende weg von einem europäischen weißen Konsens mutieren, der jetzt sagt: „Nein zu Einwanderung, Ja zu Israel“. Als eine jüdische Person in Deutschland halte ich das für gefährlich, politisch und persönlich.

Prochnik:

Sie und Emily scheinen eine Verbindung zwischen Israel und dem Holocaust zu erkennen, die über die Art und Weise hinausgeht, in der der Holocaust mit Israels eigener Staatsraison als sicherer Zufluchtsort für Juden, die in der Diaspora verfolgt werden, assoziiert wird, bis hin zu etwas, das eher konjunktiv und sakrosankt ist, wobei Israel als eine Art Gedenkstaat für die von Deutschland verübte Shoah existiert. Es gibt den Abgrund des Holocaust, und dann wird Israel zu einem Gebäude, das diese Leere ausdrucksstark und unangreifbar widerspiegelt. Im Rahmen dieses Diskurses wird die Existenz Israels zu einem Instrument, um verschiedene autokratische Bestrebungen weltweit voranzutreiben, darunter die USA der GOP und das Tory-Britannien. All diese Modelle stehen für das Bestreben, das “Böse” in der Trope des Antisemitismus zu umschreiben und gleichzeitig jeden, der die Identifizierung Israels mit dem Holocaust in Frage stellt, als antisemitisch kontaminiert zu dämonisieren, um so mehr Raum für die Umsetzung autokratischer, repressiver Agenden zu schaffen. Hannah Arendt schrieb einen berühmten Aufsatz über den Juden als Paria, aber in einer Umkehrung dieses Begriffs wird Israel zu einem Paria-Heiligen, um neonationalistische Bestrebungen zu sammeln und zu schützen.

Dische-Becker:

Wir haben festgestellt, dass die Logik, Israel als einen außergewöhnlichen Nationalstaat zu bezeichnen, der einen “guten” Nationalismus und einen lobenswerten Militarismus praktiziert, für Deutschland attraktiv ist. Aber was leistet das Holocaust-Gedenken heute? Es gibt nur noch sehr wenige Überlebende, also geht es weder um ihre Gefühle noch um Gerechtigkeit für sie. Wir beobachten immer wieder, dass es bei dieser Erinnerungskultur nicht wirklich um Gerechtigkeit geht, denn es gibt materielle Dinge, die vom Staat getan werden könnten, aber nicht getan werden. Zum Beispiel hat Christian Lindner, der derzeitige deutsche Finanzminister, der Chef der neoliberalen Freien Demokratischen Partei (FDP), die sich für die Anti-BDS Sache einsetzt, weil sie antisemitisch ist, kürzlich versucht, die Renten für Holocaust-Überlebende zu kürzen. Zwei Wochen später zündete er für einen Fototermin die größte Menora der Welt am Brandenburger Tor an – ein beliebter Trick deutscher Berufspolitiker. Wenn es also nicht um Gerechtigkeit für die Opfer geht, geht es dann darum, ein Wiederaufleben des ausgrenzenden Nationalismus zu verhindern? Im Rahmen des staatlich sanktionierten Programms zur Bekämpfung des Antisemitismus werden außerordentliche Mittel in die Erinnerungskultur gesteckt. Allein in Berlin gibt es derzeit fünf Antisemitismusbeauftragte, die verschiedene Institutionen und Gruppierungen vertreten. Man darf sich also fragen, was das alles bewirken soll.

Während der Kampf gegen Antisemitismus eskaliert, liegt die AfD, eine neofaschistische Partei, in den Umfragen vor den regierenden Sozialdemokraten, und gleichzeitig gibt es einen Anstieg des rechtsextremen Terrorismus, der oft mit der Polizei, der Armee und den Geheimdiensten verbunden ist, von denen viele Agenten rechte Sympathien und Verbindungen zu rechten Terrornetzwerken haben. Diese Entwicklungen werden jedoch selten im Zusammenhang mit Antisemitismus diskutiert. Dass es deutsche Polizisten gibt, die sich jeden Morgen Heil-Hitler-SMS zur Begrüßung schicken, liegt offenbar nicht im Zuständigkeitsbereich des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein. Anstatt sich mit den Dingen zu befassen, die tatsächlich eine Bedrohung für Leib und Leben aller rassifizierten Minderheiten in Deutschland darstellen, legt der Beauftragte den Schwerpunkt auf die polizeiliche Bekämpfung des Antizionismus unter Künstlern.

Es ist auch ein schleichender Revisionismus im Gange. Ich gebe Ihnen ein aktuelles Beispiel für etwas, das ich schockierend fand und über das keine offizielle jüdische Gemeinde in Deutschland gesprochen hat. Anlässlich der Feierlichkeiten zum fünfundsiebzigsten “Geburtstag” Israels (wie die Deutschen ihn nennen) sagte Ursula von der Leyen, die EU-Kommissarin und deutsche Christdemokratin, dass wir nach der “größten Tragödie der Menschheitsgeschichte” – nicht Verbrechen, wohlgemerkt, Tragödie – “das “Wunder” der Geburt Israels sehen”.

Prochnik:

Das ist eine sehr christologische Position in dem Sinne, dass die Kreuzigung die Geburt des Erlösers der Menschheit – oder in diesem Fall Deutschlands – ermöglicht. Aber was sollte man stattdessen tun? Wenn Sie sich an eine fortschrittliche Gruppe in den Vereinigten Staaten oder Europa wenden würden, was würden Sie vorschlagen, was bei einer solchen Abrechnung geschehen sollte?

Weizman:

Anstatt den Holocaust christologisch zu betrachten – ein zweites Opfer – ist es entscheidend, die historischen Kontinuitäten in all ihren Dimensionen zu betrachten. Es gibt inzwischen einen wachsenden wissenschaftlich-historischen Konsens – auch wenn er in Deutschland selbst nicht anerkannt wird -, dass Elemente des deutschen und des europäischen Kolonialismus ganz allgemein dazu beigetragen haben, die ideologische Grundlage für die Rassenpolitik und die Vernichtung der Juden in Europa zu schaffen. Neben der Metabolisierung anderer historischer Formen des Antisemitismus hat der Holocaust auch eine imperial-koloniale Komponente. Die deutsche Erinnerungspolitik, so wie sie gegenwärtig gestaltet ist, hat einfach keinen Platz, um diesen Zusammenhang explizit zu machen. Der Holocaust bleibt historisch atomisiert und heilig.

Wäre es nicht produktiver, die palästinensische Nakba als eine Fortsetzung des Verbrechens des Holocaust zu sehen, die sich bis in die Jahre 1948 und 1949 erstreckt, und zu verstehen, dass Europa und Deutschland eine gewisse Verantwortung für die ethnische Säuberung Palästinas tragen? Stattdessen wird nach dem Kriegsende in Europa ein Schlussstrich gezogen und die Palästinenser werden aus dem Narrativ gestrichen – so wie die kontinuierliche Unterdrückung der Algerier durch die französische Nachkriegsregierung jahrelang aus dem offiziellen französischen Narrativ über seine Rolle im europäischen Konflikt gestrichen wurde.

All dies zeigt, wie der deutsche Staat seine Legitimität untermauert, indem er einen eng umrissenen Ausschnitt seiner Vergangenheit zum Lehrstück erhebt. Die politische Geschichte Deutschlands ist voll von Beispielen von Führern und Parteien, die ihre Exzellenz darin demonstrieren, Unterscheidungen zu treffen, abzugrenzen und zu selektieren und alle anderen darüber zu belehren, was der richtige Weg ist, was die richtige Erinnerung ist und was als zivilisiert gilt. Auf diese Weise universalisiert Deutschland seine Provinzialität.

Es analysiert die Welt durch den Filter seiner eigenen Geschichte und macht seinen ganz besonderen Werdegang zu einem allgemeinen Gesetz, das es ihm ermöglicht, andere zu disziplinieren. Deutschland ist sehr an der Idee interessiert, der Beste darin zu sein, der Schlechteste zu sein. Ein antisemitischer Täter zu sein, wird so als eine Form von moralischer Expertise projiziert, die mit der Welt geteilt werden soll.

Prochnik:

Sie haben über die Vorstellung gesprochen, dass es ein offizielles, staatlich organisiertes Projekt zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft in Deutschland nach dem Holocaust gibt, und einen separaten, organischen Prozess, in dem eine jüdische Gemeinschaft begonnen hat, aus eigener Kraft Wurzeln zu schlagen. Was meinen Sie damit?

Weizman:

Es gibt heute mehrere jüdische Gruppen und Gemeinden in Deutschland. In den 1990er Jahren, nach der Wiedervereinigung, förderte Deutschland die Zuwanderung jüdischer Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und siedelte sie in verschiedenen Städten an. In seinem Bemühen, jüdisches Leben wiederzubeleben, förderte es den Bau von Synagogen, Gemeindezentren und Schulen, obwohl viele der ehemaligen sowjetischen Juden keine Erfahrung mit jüdischem Gemeinschaftsleben oder starke nationale oder religiöse Neigungen hatten. Diese staatlich organisierten Gemeinden wurden durch die Konsulate und die Botschaft mit Israel in Verbindung gebracht. Die israelischen Nationalfeiertage wurden wie selbstverständlich gefeiert. Doch Anfang der 2000er Jahre wurde eine andere Art der Migration deutlich: Palästinenser und Israelis, darunter viele Künstler und Schriftsteller, wanderten unabhängig voneinander nach Deutschland und insbesondere nach Berlin ein. Die israelischen Juden, die nach Berlin zogen, haben vielleicht Facetten ihrer jüdischen Identität geschätzt oder wiederentdeckt, aber sie wurden nicht von offiziellen jüdischen Gemeinden organisiert oder vertreten. Sie waren sicherlich nicht mit Israel verbündet. Viele dieser Menschen waren Nicht- oder Antizionisten. Einige entdeckten, dass sie in Deutschland gleichberechtigtere Beziehungen zu Palästinensern aufbauen konnten, die nicht durch die verzerrte Plattform der heutigen israelischen Apartheid vermittelt wurden.

Prochnik:

Ist es nicht eine der Herausforderungen, dass es neben der Manipulation des Begriffs Antisemitismus, den Sie beide erläutert haben, auch Fälle von echtem Antisemitismus gibt, der von der angeblich progressiven Seite dieses Konflikts ausgeht?

Weizman:

Wie bei der Documenta gibt es zweifellos sehr beunruhigende, sehr reale antisemitische Tendenzen, die in verschiedener Form in Teilen der antikolonialen Linken auftauchen.

Prochnik:

Indem Sie eine Parallele zu den Bildern des Taring Padi-Banners und Fassbinders Rich Jew aufzeigten, deuteten Sie an, dass die Mobilisierung dieser Stereotypen ein übergreifendes Ziel haben könnte, das nicht das Judentum selbst ist. Aber die verschwörerische Assoziation von Juden mit Macht – Macht hinter den Kulissen mit bösartigen Zielen – ist immer noch vorhanden und kann immer noch Folgen für die jüdische Gemeinschaft haben, unabhängig von ihren wahren Zielen. Und natürlich hat der opportunistische Antisemitismus seinen eigenen Stammbaum.

Sie stellen aber auch fest, dass wenn die Kenntlichmachung realer Vorfälle von Antisemitismus zur Begründung von umfassenderen Kampagnen mit reaktionären Zielen werden, der Vorwurf des Antisemitismus zu einer neuen Form von McCarthyismus ausgehöhlt wird – wie es im Gefolge der Documenta geschah: “Sind Sie oder waren Sie jemals ein Antisemit?

Dische-Becker:

Die Documenta hat sicherlich einen Wendepunkt markiert, nach dem Antisemitismus de facto als eine Art “permanenter Notstand” eingestuft wurde, ähnlich wie der “Krieg gegen den Terror”, was nicht nur die Absage von Theaterstücken, Preisen und Ausstellungen in alarmierendem Ausmaß erforderte, sondern auch die Änderung der Staatsbürgerschaftsgesetze, um Menschen, die jemals an antisemitischen Demonstrationen teilgenommen haben – eine Kategorie, die jede Palästina-Solidaritätsveranstaltung einschließt -, vollständig aus Deutschland auszuschließen. Deutsche Landesbehörden verbieten solche Versammlungen nun präventiv mit der Begründung, dass es in der Vergangenheit auf solchen Veranstaltungen zu antisemitischen Äußerungen gekommen ist. So haben die Berliner Behörden in diesem Jahr alle palästinensischen Demonstrationen anlässlich des fünfundsiebzigsten Jahrestages der Nakba untersagt. Sie begründeten dies unter anderem damit, dass befürchtete, die Demonstrant_innen könnten Israel “Apartheid” unterstellen. Eine solche umfassende Unterdrückung von Meinungsäußerung ist eine Perversion des deutschen Selbstverständnisses als einer liberalen Demokratie.

Ein letzter Punkt zum Projekt der kulturellen Erinnerung an den sogenannten Antisemitismus: Es räumt den Erben der Täter_innen des Holocaust und der kolonialen Massaker sowie den zeitgenössischen Täter_innen rassistischer Ausgrenzung die alleinige moralische Autorität ein, die Lehren durchzusetzen, die sie aus ihrer eigenen Gewaltgeschichte ziehen wollen. Ausgehend von dem, was wir heute sehen, bedeutet dies den Versuch, sicherzustellen, dass bestimmte Kontinuitäten der Entmenschlichung, der Mobilisierung von Ressentiments in der Bevölkerung und der deutschen Selbstviktimisierung nicht erkannt werden, auch wenn dadurch die Solidarität zwischen verschiedenen rassifizierten Gemeinschaften untergraben wird. Die Lehren aus der deutschen Geschichte müssen statisch bleiben. Sie werden auf den negativen Exzeptionalismus des “Nie wieder Auschwitz” reduziert, damit sie uns keine Anhaltspunkte zur Bekämpfung gegenwärtigen Unrechts bieten oder, wie im Fall eines Landes wie Namibia, weitere Forderungen nach Wiedergutmachung hervorrufen.

Prochnik:

Sie haben ein Panorama von Fällen genannt, in denen die Instrumentalisierung von Antisemitismus und Zionismus für bestimmte politische Ziele eine Gefahr für die schwachen Bevölkerungsgruppen in Deutschland darstellt, darunter Migrant_innen, Palästinenser_innen und Juden/Jüdinnen. Diese Fehlurteile werden immer eklatanter und umstrittener. Glauben Sie, dass die Aufmerksamkeit, die dieses Problem inzwischen erregt, zu einer deutlichen Gegenbewegung führen wird?

Dische-Becker:

Es ist nunmehr offensichtlich geworden, dass das Problem des Antisemitismus ein Laboratorium für eine umfassendere antidemokratische Politik darstellt und als Präzedenzfall für das Verbot anderer Protestformen dient. Erst wurden die palästinensischen Demonstrationen aufgelöst, jetzt werden andere Demonstrationen der Linken verhindert. So hat die Regierung beispielsweise begonnen, mit Maßnahmen wie Präventivhaft gegen Umweltaktivist_innen vorzugehen. Außerdem hat die deutsche Polizei kürzlich die Umweltorganisation „Letzte Generation“ zu einem Syndikat der organisierten Kriminalität erklärt. Die Polizei hat sich scheußlich und rechtswidrig verhalten und zum Beispiel antifaschistische Demonstrationen in Leipzig nach der Verurteilung von Antifa-Aktivist_innen im Mai 2023 verboten. Es überrascht nicht, dass auch die Polizeigewalt zugenommen hat – dass rassifizierte Menschen in Deutschland von der Polizei ermordet werden, was früher im vereinten Deutschland als unvorstellbar galt.

All diese unverfrorene und breitgefächerte Repression bringt es mit sich, dass die Menschen die Zusammenhänge erkennen. Diejenigen, die den Autoritarismus aus erster Hand kennen, und diejenigen, die die demokratischen Freiheiten hochhalten, sind Menschen, die in der Vergangenheit politische Gewalt erlebt haben. In Deutschland gibt es heute viele Menschen mit diesem Hintergrund.

Weizman:

Ein weiterer Bereich, in dem sich Widerstand gegen diese negativen Trends finden lässt, ist der Kampf um die jüdische Identität selbst, der jetzt in Deutschland stattfindet – das heißt, der Widerstand gegen das israelische Staatsmodell eines national-ethnischen Staates zugunsten eines diasporischen Staates, der nicht nationalistisch und manchmal auch nicht zionistisch oder explizit antizionistisch ist.

Es ist nicht so, dass ähnliche Kämpfe nicht auch in Großbritannien, in den USA und an anderen Orten geführt werden, aber in Deutschland sind sie aufgrund seiner Geschichte und der Verantwortung, die die Deutschen gegenüber den Juden haben, anders gelagert. Ich leugne diese besondere Verantwortung nicht; ich glaube nur nicht, dass es den Deutschen zusteht, uns zu sagen, welche Art von Juden wir sein sollen, welches Projekt wir als das unsrige wählen sollen. Sowohl Emily als auch ich, jüdische Intellektuelle in Deutschland, sehen uns gelegentlich unserer Identität beraubt und öffentlich diszipliniert – belehrt von den Nachfahren der Täter, die unsere Familien ermordet haben und es nun wagen, uns antisemitisch zu nennen.

Dische-Becker:

Die jüdische Identitätsfrage in Deutschland spaltet sich in zwei Hauptfraktionen: diejenigen, die glauben, dass jüdisches Wohlergehen und Sicherheit sich aus den Appellen an die moralische Autorität der Täter-Erb_innen ableitet, und Juden/Jüdinnen, die unter jüdischem Wohlergehen und jüdischer Sicherheit die Solidarität mit anderen Minderheiten verstehen. Das ist die Trennlinie. Man kann es links oder rechts nennen, aber das ist der Kern der Sache.

Was Deutschland als Ganzes betrifft, so wäre ein Rechtsruck des Staates, der sich die nationale Einzigartigkeit zu eigen macht, das denkbar schlechteste Ergebnis für gefährdete Bevölkerungsgruppen, auch über Deutschlands Grenzen hinaus. Deutschland ist der Schiedsrichter Europas, wenn es um Antisemitismus und Migration geht. Wenn Deutschland sagt, dass es in Ordnung ist, Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen, dann ist es in Ordnung, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil die Menschen, die ihren Umgang von Minderheiten in der Vergangenheit am meisten bedauern und am meisten aus ihrem Missbrauch rassifizierter Menschen gelernt haben, sagen, dass es in Ordnung ist. Wenn Deutschland sagt, dass die Menschen, die versuchen, nach Europa zu kommen, eine Gefahr für die Juden darstellen und es deshalb in Ordnung ist, ihnen die Einreise zu verweigern, dann ist es in Ordnung, sie abzuweisen.

In ihrer extremsten Form bedeutet die deutsche Überidentifikation mit dem jüdischen Nationalismus, dass die Deutschen sich das Recht anmaßen, sich in Juden hineinzuversetzen. Für eine bestimmte Art von Deutschen, die sich stark mit Israel identifizieren, löst ein Jude, der den israelischen Militarismus ablehnt, ein Gefühl tiefempfundenen Ekels aus.

Die alternativen jüdischen Antworten auf die zeitgenössische Landschaft, für die Eyal und ich plädiert haben, verletzen die jüdische Identität, die sich die Deutschen für sich selbst ausgemalt haben. Angesichts dieser deutschen Übung, sich jüdische Geschichte und Sensibilität anzueignen, möchte ich einfach nur sagen: Fick dich! Ich empfinde keine Dankbarkeit. Nicht für Deutschland, und nicht für Israel.

Weizman:

Noch einmal: Deutschland definiert, wer ein Jude ist, richtig? Die Ironie, dass der deutsche Staat tatsächlich festlegt, wer ein Jude ist, was eine legitime jüdische Position ist und wie Juden zu reagieren haben, ist einfach unter jeder Kritik.

George Prochnik

George Prochnik wurde 2021 mit einem Guggenheim-Stipendium für allgemeine Sachbücher ausgezeichnet. Er hat für Publikationen wie den New Yorker und die LA Review of Books geschrieben und ist leitender Redakteur des Cabinet Magazine. „Talk America“ ist ein Auszug aus dem Buch I Dream with Open Eyes, das demnächst bei Counterpoint Press erscheint. Zu seinen Büchern bei Granta gehören Stranger in a Strange Land: Searching for Gershom Scholem and Jerusalem, das auf der Shortlist für den Wingate Prize stand und von der New York Times als „Editor’s Choice“ ausgezeichnet wurde.

Eyal Weizman

Eyal Weizman ist ein britisch-israelischer Architekt. Er ist Gründer und Direktor von Forensic Architecture, Generalsekretär von Forensis e. V. und Professor für Spatial and Visual Cultures an der Goldsmiths University of London. Zu seinen Büchern gehören Hollow Land, Investigative Aesthetics, The Roundabout Revolutions, The Conflict Shoreline und Forensic Architecture.

Emily Dische-Becker

Emily Dische-Becker ist Autorin, Organisatorin und Kuratorin sowie Forscherin für Forensis/Forensic Architecture und lebt in Berlin. Sie ist Mitglied des Lenkungsausschusses der Jerusalem Declaration on Antisemitism und Deutschlanddirektorin der Diaspora Alliance. Sie war Beraterin für öffentliche Programme auf der Documenta fünfzehn und hat kürzlich eine internationale Konferenz mit dem Titel “Hijacking Memory: The Holocaust and the New Right” in Berlin mitorganisiert.


Wieder einmal definiert Deutschland, wer ein Jude ist | Teil II
Original: Once Again, Germany Defines Who Is a Jew | Part II
Deutsche Übersetzung / siehe Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost

George Prochnik, Emily Dische-Becker & Eyal Weizman

Deutschlands Aufarbeitung seiner Geschichte der Gräueltaten begann als ein Unterfangen der linken deutschen Zivilgesellschaft. Heute ist sie zu einem hochgradig bürokratisierten Hebel des Staates geworden, der oft einer reaktionären Agenda dient. Seit dem 7. Oktober haben die deutschen Behörden mit einem der umfassendsten Eingriffe in die Zivilgesellschaft seit Jahrzehnten begonnen. Am 20. Juli 2023 sprach George Prochnik mit Emily Dische-Becker und Eyal Weizman – zwei Forschern und Aktivisten – für die Printausgabe von Granta. Am 1. November begann Prochnik ein neues Gespräch mit Weizmann und Dische-Becker über den Angriff der Hamas am 7. Oktober, den darauffolgenden israelischen Angriff und die deutsche Reaktion auf beides.

George Prochnik:

Eyal, wie hat sich Ihr Denken über die deutsche Erinnerungskultur nach dem Gemetzel und dem Elend, das Israel und Palästina in den letzten Wochen heimgesucht hat, entwickelt? Wie geht es Ihnen persönlich, und was ist aus der Rechercheagentur Forensische Architektur geworden?

Eyal Weizman:

Angesichts der Szenen von unvorstellbarer Brutalität, denen wir alle ausgesetzt waren, war meine sofortige Reaktion heftig und sehr emotional, auch wenn ich verzweifelt daran arbeite, den Auftrag von Forensic Architecture (FA) zu erfüllen. Israelische Freunde einer meiner Töchter waren unter denen, die von der Hamas auf dem Rave im Negev ermordet wurden, und meine Familie versucht seither, ihr bei der Trauer zu helfen. Forensic Architecture hat als Folge der israelischen Invasion in Gaza Freunde aus unserer engen Partnerorganisation Ain Media verloren. In der ersten Woche des Krieges haben wir keine Ermittlungen durchgeführt, sondern lediglich versucht, vermisste Mitglieder von Ain Media ausfindig zu machen. Unsere Mitarbeiter in Gaza suchten haben vor Ort nach ihnen gesucht, und wir haben unsere Methoden angewendet: Wir haben Videos, die uns zugeschickt wurden, analysiert, und Material, das wir im Internet finden konnten. Was wir über ihre Schicksale herausfanden, war verheerend. Wir haben uns mit Rushdi al-Sarraj, dem Mitbegründer von Ain Media, in Verbindung gesetzt, um ihm unsere Erkenntnisse mitzuteilen. Zwei Wochen später, am 22. Oktober, wurde er selbst bei einem israelischen Bombenangriff auf sein Haus in Gaza-Stadt getötet. Er starb, während er mit seinem Körper seine Frau und ihre kleine Tochter schützte. Eine Woche später erfuhr eine liebe Kollegin von uns, eine palästinensische Geflohene aus Ramla, die in Gaza aufgewachsen ist, dass einundzwanzig Mitglieder ihrer engsten Familie – drei Generationen, darunter kleine Kinder und ältere Menschen – durch einen weiteren israelischen Luftangriff ausgelöscht wurden. Sie waren in ihren Häusern geblieben und hatten sich geschworen, sich nicht noch einmal vertreiben zu lassen. Jeden Tag gibt es neue Nachrichten über weitere Verluste. Wir befinden uns also in einer beispiellosen Situation: Wir trauern, sind tief verletzt, begraben sozusagen unsere Toten, versuchen aber gleichzeitig, uns zusammenzureißen und die Menschenrechtsarbeit fortzusetzen, der wir uns verpflichtet fühlen.

Prochnik:

Zur Beschreibung der Welt, in der wir uns heute befinden, hat Emily eine Aussage von Yossi Bartal zitiert, einem in Berlin lebenden Aktivisten: “Es gab einen Kontext zum 7. Oktober, und der 7. Oktober hat einen neuen Kontext geschaffen. Was halten Sie von dieser Idee einer radikalen Trennlinie, die die Gegenwart verändert, während sie die Vergangenheit neu verortet?

Weizman:

Es gibt zwei unterschiedliche Zugänge zur Vergangenheit: einen, der von faktischem Ausgraben, Zusammentragen und Analysieren bestimmt ist, und einen, der sich als in einer Art psychologischem Rückschlag ausdrückt. Wir können die erste Form als historische Kontextualisierung, die zweite als traumatische Erinnerung bezeichnen. Diese beiden Reaktionsweisen sind in den letzten Wochen jedoch gefährlich durcheinander geraten. Der 7. Oktober und seine Folgen haben Tausende verschiedener Bilder hervorgebracht – das Durchbrechen von Mauern, Morde von Haus zu Haus, Zivilisten, die aus ihren Häusern vertrieben wurden und mit ihren Habseligkeiten über staubige Straßen laufen, Zeltstädte, Bombenteppiche, Familien, die unter den Trümmern ihrer ehemaligen Häuser begraben sind – und jedes Bild löst je nach Betrachter unterschiedliche traumatische Rückblenden aus.

Als Nachkomme einer Familie von Pogrom- und Holocaust-Überlebenden kann ich nicht leugnen, dass die Ermordung von Familien aus nächster Nähe ein emotionaler Auslöser war. Aber das Trauma, das auch ich erlebe, kann die Verantwortung zur historischen Analyse nicht ersetzen. Die israelische Gesellschaft scheint im 7. Oktober festzustecken, wie in einer endlosen Gegenwart. Das Trauma hat zumindest einen Teil der Ereignisse dieses Tages von der Geschichte der fünfundsiebzigjährigen Katastrophe, die Israel über die Palästinenser _innen gebracht hat, der jahrzehntelangen Belagerung des Gazastreifens und der Verweigerung eines politischen Horizonts für ein anderes Volk abgekoppelt. Aber nach dem 7. Oktober kam der 8. Oktober und so weiter – und die ganze Zeit über jubelt ein Großteil der israelischen Gesellschaft oder nimmt die Vernichtung des Gazastreifens gar nicht wahr.

Das Trauma erzeugt einen metageschichtlichen psychologischen Zustand der permanenten Verfolgung. Das ist sehr gefährlich, vor allem, wenn Israel eine so große Armee hat, mit so viel internationaler Unterstützung und einer auf Vernichtung gepolten Denkweise. Israelische und deutsche Politiker sagen: “Nie wieder ist jetzt”. Das artet in eine groteske Parodie des historischen Gedächtnisses aus, wenn der israelische Botschafter bei der UNO mit einem Davidstern als Rechtfertigung für die Vernichtung des Gazastreifens dasteht und die völkermörderischen Erklärungen der israelischen Regierung und Armee wiederholt. Wenn man Äußerungen wie “Auslöschung des Gazastreifens vom Angesicht der Erde”, “alles auslöschen” oder “menschliche Tiere” hört, gefolgt von systematischen Angriffen auf öffentliche Einrichtungen, Krankenhäuser, Schulen und einer so großen Opferzahl unter der Zivilbevölkerung, dann ist dringend Handeln geboten, um zu stoppen, was viele Rechtsgelehrte als einen sich entfaltenden Völkermord bezeichnen.

Israel kämpft nicht gegen „Nazis”; die Palästinenser_innen sollten nicht für die Verbrechen Deutschlands bezahlen müssen; und Israels Angriff auf den Gazastreifen und seine Bevölkerung ist kein Prozess der “Entnazifizierung”. Die meisten israelischen Opfer sind palästinensische Zivilisten, die nach jahrzehntelanger Besatzung und Belagerung verarmt sind.

Was Deutschland betrifft, so scheinen die Juden die einzigen zu sein, die ein Recht auf einen historischen Kontext haben, auf Geschichte und auf ein Trauma. Die palästinensische Geschichte wird verleugnet. Die Anerkennung der andauernden Nakba der Palästinenser_innen ist öffentlich nicht erlaubt (das Gedenken an die Nakba-Tage war bereits in den Vorjahren staatlicherseits verboten worden). Den Palästinenser_innen wird von den deutschen Behörden häufig untersagt, ihre Trauer bei Mahnwachen für die Tausenden von in Gaza getöteten Palästinenser_innen zu bekunden. Selbst die Forderung nach einem Waffenstillstand kann in Deutschland als antisemitisch gewertet werden. Über die Rechte der Palästinenser_innen zu referieren, zu schreiben oder zu senden, ist verboten. Die bloße Berufung auf den Begriff “Kontext” zum 7. Oktober wird, wie der UN-Generalsekretär António Guterres schnell feststellte, als “Relativierung” der palästinensischen Gewalt und damit als antisemitisch dargestellt.

Da nur die jüdische Geschichte als Kontext akzeptiert wird, ist nur die israelische Gewalt legitim und aus moralischen und pragmatischen Gründen erklärbar. Die Ermordung von Israelis ist eine Katastrophe, die viele in Deutschland im Innersten berührt. Palästinenser_innen zahlen lediglich einen “Preis” oder werden bestenfalls als bedauerlicher Kollateralschaden angesehen.

Über Kontext muss auch noch etwas anderes gesagt werden. Der Kontext kann als historische Erklärung dienen, nicht jedoch als moralische Rechtfertigung. Der Kontext eröffnet ein Feld möglicher Handlungen, aber er bestimmt sie nicht. Wenn es ein Handeln gibt, gibt es auch Verantwortung, und nichts im historischen Kontext rechtfertigt Gräueltaten gegen Zivilisten oder schreibt sie gar vor. Palästinenser_innen haben das Recht und die Pflicht, sich ihren Besatzern zu widersetzen. Israel ist wie jedes andere Land an die Pflicht zur Gleichheit gebunden, und die Massaker an Zivilisten lassen sich durch keinen noch so gewaltsamen Kontext rechtfertigen. Geschichte ist nicht die mechanische Übertragung einer Erscheinungsform von Gewalt auf eine andere. Es gibt immer eine Wahl, und jeder ist für seine eigene Gewalt verantwortlich.

Prochnik:

In Anbetracht dessen, was Sie sagen, halte ich es für wichtig, auf eine weitere Spaltung hinzuweisen, die die Unbeständigkeit des Augenblicks noch verschlimmert. Die großen Mächte im Westen, sowohl Regierungen als auch Institutionen, haben sich mit Israel solidarisiert – und das Gefühl des Verlassenseins unter den Palästinenser_innen noch verstärkt. Gleichzeitig gibt es, wie Sie im Zusammenhang mit dem Leid in Ihrer eigenen Familie festgestellt haben – wofür ich Ihnen mein Beileid ausspreche -, auch auf israelischer Seite einen unverhüllten Schock, einen Zustand reiner Trauer, der manchmal nichts mit der Instrumentalisierung historischer Traumata durch die israelische Regierung und ihre Helfershelfer_innen zu tun hat – ja nicht einmal mit der eigenen Familiengeschichte der Menschen. Die israelische Regierung hat auf die Anschläge vom 7. Oktober mit schneller, unerbittlicher, zerstörerischer Gewalt reagiert; vielleicht hatte der Raum für ein breiteres Mitgefühl keine Chance, sich zu entwickeln, weil es keine Pause, keinen Herzschlag gab, ehe der Luftangriff begann. Unabhängig davon gab es in der fortschrittlichen globalen Zivilgesellschaft im Großen und Ganzen keine Mobilisierung, um den Israelis in einem Zustand des Mitgefühls beizustehen, den wir als gewöhnliche Trauer bezeichnen könnten (um ihn von der reflexiven traumatischen Erinnerung zu unterscheiden, auf die Sie hinweisen). Stattdessen wurde die grundlegende menschliche Verantwortung, alle Opfer mitfühlend anzuerkennen und zu unterstützen, überwiegend mit einer unheilvollen, falschen Binarität überklebt. Mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen hat sich die fortschrittliche Zivilgesellschaft um das Leid der Palästinenser_innen geschart, während die Westmächte Israels Militäraktionen fast unterschiedslos unterstützt haben. Dies ist offensichtlich eine äußerst ungesunde Zweiteilung, die den Wert des Lebens einzelner palästinensischer Menschen schmälert, während sie gleichzeitig den ohnehin schon zunehmenden weltweiten Antisemitismus anheizt. Am Ende fühlen sich beide Bevölkerungsgruppen isoliert: die Palästinenser_innen von Hoffnung und Macht; die Israelis von der größeren Gemeinschaft der Trauer, die den Menschen helfen kann, die inneren Ressourcen zu finden, um über giftige Stammespositionen hinauszukommen.

Emily, ich weiß, dass die Situation in Deutschland in Bezug auf die Zivilgesellschaft nicht in diesen Rahmen passt, auch wenn die Regierung in ihrer Solidarität mit Israel so weit geht, dass sie in ihrer Haltung zu Israel-Palästina in eine besonders verhängnisvolle Phase eingetreten ist. Können Sie uns sagen, wie die Situation vor Ort in Deutschland heute aussieht?

Emily Dische-Becker:

Für Juden in Deutschland war das Massaker vom 7. Oktober zutiefst traumatisch und erschreckend, und für Palästinenser_innen in Deutschland ist die ungehinderte Zerstörung des Gazastreifens weiterhin zutiefst traumatisch und erschreckend.

Der deutsche Staat und die meisten staatlich finanzierten Institutionen haben sich bedingungslos mit Israel solidarisch erklärt, ohne das palästinensische Leid zu erwähnen, obwohl der Krieg in Gaza Tausende Zivilisten getötet hat. Dies hat dazu geführt, dass Menschen mit arabischem und muslimischem Hintergrund das Gefühl haben, dass ihr Schmerz, ihre Wut und ihre Trauer ungesehen und auch unsagbar sind. Die Menschen berichten über ein tiefes Gefühl der Unzugehörigkeit. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief alle Personen mit “arabischen Wurzeln” auf, sich von der Hamas zu distanzieren. Diese Art der Sippenhaftung hat hier einen unangenehmen Beigeschmack.

Jegliche Solidaritätsbekundung mit den Palästinenser_innen, jede Antikriegsstimmung und jeder Aufruf zum Waffenstillstand wurde mit aller Härte bekämpft. In den ersten zwei Wochen nach dem 7. Oktober wurden in Berlin alle pro-palästinensischen Demonstrationen – auch Antikriegs- oder allgemein antirassistische Demonstrationen – verboten. Die Schulen wurden vom Senat angewiesen, keinen Ausdruck palästinensischer Identität zuzulassen. Es gab eine Art polizeiliche Belagerung des arabisch-deutschen Viertels in Neukölln, bei der Menschen brutal festgenommen wurden, weil sie eine Keffiyeh trugen.

In den letzten Wochen wurden Demonstrationen unter strengen Auflagen für die Slogans erlaubt. Die Parole “Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein” wurde verboten. In Bayern wird sie als Volksverhetzung auf einer Stufe mit “Heil Hitler” geahndet. In den letzten Wochen wurde sogar die Parole “Vom Fluss bis zum Meer, wir fordern Gleichheit” von der Polizei verboten, ebenso wie jeder Hinweis auf “Völkermord”. Bei einer Demonstration in Berlin wird eine Person, die ein Schild mit der Aufschrift “Von XX bis XX wird XX frei sein” in der Hand hielt, wegen möglicher Verhetzung verfolgt. Die Polizei kündigte an, eine angemeldete Demonstration aufzulösen, wenn die Menge “Stoppt den Krieg” skandiert. Die Forderung nach einem Waffenstillstand wird mit der Verweigerung des Rechts Israels auf Selbstverteidigung gleichgesetzt und ist somit gleichbedeutend mit dem Wunsch, dass israelische Juden ermordet werden sollen.

Neben dem Massaker in Israel und der Geiselnahme im Gazastreifen steht der zunehmende Antisemitismus in Berlin und in Deutschland im Allgemeinen, der angeblich von Einwanderer_innen aus dem Nahen Osten ausgeht, im Vordergrund. Dies hat sich mit der Antimigrationsrhetorik vermischt, die sich bereits seit Monaten vor dem 7. Oktober aufgebaut hatte.

Darüber hinaus wurden mehrere Gesetzesvorschläge unterbreitet, die nicht nur verhindern würden, dass Menschen, die das Existenzrecht Israels nicht anerkennen, die Staatsbürgerschaft erhalten, sondern auch Menschen, die antisemitische Handlungen begehen, die Staatsbürgerschaft entziehen könnten, sofern sie einen anderen Pass haben, was bedeutet, dass deutsch-deutsche Antisemiten nicht betroffen wären.

Am Jahrestag der Kristallnacht – dem 9. November – brachte die Regierungskoalition eine 51 Punkte umfassende Entschließung ein, die im Namen der “historischen Verantwortung Deutschlands für den Schutz jüdischen Lebens” radikal in die verfassungsmäßig garantierte Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie in das Einwanderungsrecht eingreifen würde. Die Resolution ist rechtlich nicht bindend und wurde noch nicht verabschiedet. Wie wir jedoch aus einer früheren Entschließung des Bundestags aus dem Jahr 2019 gesehen haben, in der die BDS-Methoden als antisemitisch eingestuft wurden, hat sie das Potenzial für weitreichende Folgen, da sie zur Umsetzung neuer Richtlinien für die Strafverfolgung, die Justiz und öffentliche Einrichtungen, einschließlich Kultur-, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, verwendet werden würde. Eine Art Gesetz durch die Hintertür.

Unter den vorgeschlagenen Maßnahmen befinden sich mehrere, die ziemlich absurd sind, darunter zum Beispiel die Streichung öffentlicher Mittel für Kultureinrichtungen, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen oder die mit Institutionen oder Einzelpersonen zusammenarbeiten, die das Existenzrecht Israels ablehnen – was effektiv alle Einrichtungen in Ländern der muslimischen Welt bedeuten würde, die Israel nicht anerkennen. Das würde bedeuten, dass Deutschland weiterhin Gas aus Katar kaufen oder Waffen an Saudi-Arabien verkaufen kann, dass aber der kulturelle Austausch verboten wäre.

Die Resolution fordert die Länder auf, verschiedene Sanktionen zu verhängen, die von Abschiebungen bis zur Verweigerung des Rechts auf Familienzusammenführung, der Kürzung von Sozialleistungen und der Verweigerung von Arbeitserlaubnissen für in Deutschland ansässige Personen reichen, die “terroristische Organisationen wie Hamas und Samidoun unterstützen oder zum Hass gegen Juden aufstacheln”.

Die Frage ist: Wie wird “Unterstützung” definiert? Nach dem, was wir in den letzten Wochen gesehen haben, wird gilt die Sorge um das Schicksal der palästinensischen Zivilbevölkerung im weitesten Sinne als Unterstützung der Hamas.

Bezeichnenderweise wird in dem Gesetzentwurf die Bedrohung jüdischen Lebens durch rechtsextreme Gruppen und Parteien nur am Rande erwähnt, obwohl 84 Prozent der antisemitischen Straftaten in Deutschland auf das Konto von Rechtsextremisten gehen, und der tödliche Angriff auf eine Synagoge in Halle im Jahr 2019 von einem Neonazi verübt wurde. Dies ist eine zynische Unterlassung, wenn man bedenkt, dass der Anlass für den Gesetzentwurf – der 9. November – an die von den Nazis begangenen Pogrome erinnert.

Es ist, als ob die nicht-jüdischen Deutschen selbst traumatisiert seien. Durch eine Art verdrehtes Erbe ihrer eigenen Geschichte als Verfolger können sie am heutigen jüdischen Leid teilhaben. So habe ich die vorherrschende Reaktion gelesen.

Prochnik:

Wie rechtfertigt der deutsche Staat formell sein hartes Vorgehen gegen Demonstrationen zur Unterstützung der Palästinenser_innen?

Dische-Becker:

Jedes Bekenntnis zur Solidarität mit Palästina oder zur Sorge um die Palästinenser_innen wird de facto als pro-Hamas und antisemitisch ausgelegt. Die Medien haben es vorgemacht. Unmittelbar nach dem Anschlag titelte der Spiegel Online: ‘Ein Großteil von Neukölln sympathisiert mit der Hamas’. Die Gleichsetzung von Palästina-Deutschen und Hamas war also der erste Schritt. Dann kam die Titelseite in Der Spiegel in der ersten Woche nach den Anschlägen, ein Bild von Bundeskanzler Olaf Scholz mit der Schlagzeile: “Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“. Das war die Titelseite! In der nächsten Woche bildete die Titelseite Fotos von vier Juden ab mit dem Satz: „Wir haben Angst“. Was ich sehe, ist, dass die jüdische Angst als Schmiermittel für den deutschen Rassismus und für eine rechte Politik benutzt wird. Es ist so offenkundig. Die Überidentifikation, die den deutschen Antisemitismus vor dem 7. Oktober kennzeichnete, ist jetzt totalisiert. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass manche Deutsche, wenn sie „Israel“ sagen, eigentlich „Deutschland“ meinen. Ich habe das Gefühl, dass wir uns einem Punkt nähern, an dem das Argument auftaucht: „Warum können wir nicht auch Araber_innen wie Bürger_innen zweiter Klasse behandeln, um Juden und Jüdinnen zu schützen?“ Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung, auch für Juden.

Prochnik:

Gibt es weitere Anzeichen für die veränderte Stimmung in Deutschland, die man Ihrer Meinung nach beachten sollte?

Dische-Becker:

Die Hubert-Aiwanger-Saga steht für die Radikalisierung der deutschen Situation. Einige Wochen vor dem 7. Oktober behauptete die Süddeutsche Zeitung, eine der großen überregionalen Zeitungen Deutschlands, dass der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger – ein Mitglied der rechtsgerichteten Partei Freie Wähler – in seiner Schulzeit ein Flugblatt verfasst hatte, auf dem stand: “Bundesweiter Wettbewerb für den größten Vaterlandsverräter, wollt ihr in den Schornstein von Auschwitz?“ Dann kamen weitere Details ans Licht, die darauf hindeuteten, dass es sich nicht um einen einmaligen Streich Aiwangers handelte, sondern dass er in der Schule auch den Hitlergruß gezeigt hatte, worauf er antwortete, er könne sich nicht erinnern.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder wurde unter Druck gesetzt, etwas zu unternehmen, auch von zentralen Vertretern der Jüdischen Gemeinde. Er kündigte schließlich an, er werde Aiwanger nicht entlassen und habe sich mit Vertreter_innen der Jüdischen Gemeinde darüber beraten. Einige dieser Vertreter_innen – darunter Charlotte Knobloch, eine 91-jährige Holocaust-Überlebende und Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Bayerns – befürworteten die Entscheidung, sagten aber auch, Aiwanger solle in sich gehen

Bei verschiedenen öffentlichen Auftritten in bayerischen Bierzelten begann Aiwanger, die Angelegenheit als eine Kampagne von “denen da oben” zu bezeichnen, mit der Absicht, ihn zum Schweigen zu bringen, und führte die „Kampagne“ auf die im Oktober anstehenden Wahlen zurück. Er zeigte sich wenig einsichtig und reumütig und stellte sich selbst als Opfer dar. Außerdem begann er, seine Basis um sich zu scharen, was dazu führte, dass seine Partei in den Umfragen kräftig zulegte.

Dies ist wahrscheinlich das erste Mal in der der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass der Vorwurf des Antisemitismus die Karriere einer Person nicht geschadet, sondern eher gefördert hatte. Und mittendrin hat man im deutschen Kontext gesehen, dass jüdische Vertreter keine Möglichkeit haben, die Machthaber zur Rechenschaft zu ziehen. Konsequenzen gibt es immer nur für diejenigen, die in der deutschen Gesellschaft keine Macht haben: Migrant_innen und People of Color.

Prochnik:

Ist ein Teil des Problems in Deutschland – wie auch anderswo – die Kluft zwischen dem weitgehend progressiven Kultursektor und dem politischen Bereich?

Dische-Becker:

Die Unterstützung für die Palästinenser_innen durch die Kulturwelt, die wir international beobachten können, hat in Deutschland weitgehend gefehlt. Es gab keine großen offenen Solidaritätsbekundungen. Einzelne, die sich geäußert haben, wurden entlassen oder bekamen ihre Auftritte gestrichen. Zu denjenigen, die in den ersten Tagen entlassen wurden, gehörte Malcolm Ohanwe, ein schwarzer palästinensisch-deutscher Journalist. Unmittelbar nach dem 7. Oktober verurteilte er den Angriff der Hamas in aller Deutlichkeit, sagte aber auch, dass es einen Kontext für die Wut und Frustration gebe. Und so wurde er vom Bayerischen Rundfunk und von ARTE entlassen, ebenso wie von einer Organisation namens Neue Deutsche Medienmacher, die angeblich die Interessen von Medienschaffenden vertritt, die nicht-weiße Deutsche sind. Seine sofortige Kündigung erinnerte an den 11. September 2001 und an das ganze Kalkül, wann es in der Zeitlinie der Katastrophe als angemessen erachtet wird, den Kontext zu erwähnen.

In den darauffolgenden Wochen gab es eine beispiellose Flut von Kündigungen und Entlassungen, insbesondere im Kulturbereich. Davon waren vor allem rassifizierte Minderheiten betroffen – schwarze Künstler_innen, Palästinenser_innen und Araber_innen sowie progressive Juden und Jüdinnen. Die preisgekrönte palästinensische Romanautorin Adania Shibli sollte auf der Frankfurter Buchmesse einen Preis für ihren Roman Minor Detail erhalten. Die Preisverleihung durfte nicht stattfinden. Ein großes internationales Symposium zu Erinnerungskultur, das von dem Holocaust-Forscher Michael Rothberg und der südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz – beide jüdisch – organisiert wurde, wurde abgesagt. Oyoun, einem bedeutenden, von Migrant_innen betriebenen Kulturzentrum in Berlin-Neukölln, wurden ab dem nächsten Jahr die öffentlichen Mittel gestrichen, weil es sich der Anweisung des Berliner Senats widersetzt hatte, keine Veranstaltung zum zwanzigjährigen Bestehen einer Gruppe namens “Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden” zu organisieren. Dies hat die Berliner Kulturszene in Aufruhr versetzt. Die Entscheidung des Senats ist rechtlich fragwürdig, aber eine gerichtliche Anfechtung wäre langwierig, und das Haus kann seine dreißig Mitarbeiter_innen nicht bezahlen, von denen viele Ausländer_innen sind, deren Arbeitsvisum an eine Beschäftigung gebunden ist. Erst kürzlich hat das Saarbrücker Museum die für das nächste Jahr geplante Ausstellung von Breitz abgesagt. Das Museum begründete seine Entscheidung mit der Medienberichterstattung, Breitz habe sich nicht von der Hamas distanziert und den Krieg in Gaza kritisiert – eine nachweislich falsche Behauptung. Die Pressemitteilung des Museums zur Absage von Breitz’ Ausstellung ist wahrlich verblüffend: “Der Vorstand hat beschlossen, Künstlern, die den Terror der Hamas nicht als Zivilisationsbruch anerkennen oder die bewusst oder unbewusst die Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Handlungen aufheben, keine Plattform zu bieten”. Zivilisationsbruch ist ein Begriff, der für den Holocaust verwendet wird. Wenn also eine jüdische Künstlerin den Hamas-Anschlag nicht als gleichwertig mit dem Holocaust anerkennt, kann sie ihre Werke nicht in Deutschland ausstellen?

Die gesamte Findungskommission für die nächste Ausgabe der Documenta – Deutschlands prestigeträchtigstes Kulturereignis – ist Anfang des Monats zurückgetreten und hat sich darauf berufen, dass es unter den gegenwärtigen Umständen unmöglich sei, in Deutschland zu arbeiten – wobei Zensur und politische Einmischung gemeint waren.

Es ist bemerkenswert zu beobachten, wie Deutschland seine eigene Soft Power und seinen Ruf als Förderer des kulturellen Austauschs und der Menschenrechtsarbeit auf internationaler Ebene zerstört, und es ist garantiert waghalsig zu behaupten, es tue dies im Namen jüdischer Menschen.

Prochnik:

Hat der Antisemitismus in Berlin und anderswo in Deutschland nicht tatsächlich zugenommen, teilweise unter dem Deckmantel fortschrittlicher, pro-palästinensischer Solidarität?

Dische-Becker:

Die Gefahr von Antisemitismus und antisemitischer Gewalt ist in Deutschland so groß wie noch nie in den letzten Jahren. Letzten Monat gab es einen versuchten Molotowcocktail-Anschlag auf eine Synagoge in Berlin. Es wurden Davidsterne auf Gebäude gemalt, in denen Juden leben, und es gibt Berichte darüber, dass Hebräisch sprechende Menschen bespuckt werden und Angst haben, mit sich mit ihren Kindern auf der Straße auf Hebräisch zu unterhalten.

Wenn man sich die Statistiken ansieht, ist ein deutlicher Anstieg der so genannten “Propagandadelikte” zu verzeichnen – Hassreden im Internet, Graffiti usw. Aber die Polizei verhaftet und verfolgt Menschen wegen Aufrufen zu Demonstrationen, die vor dem 7. Oktober nicht illegal waren, was ebenfalls zu einem Anstieg der gemeldeten Fälle von Antisemitismus führt. Es gibt einen Anstieg antisemitischer Straftaten, aber nicht der Straftaten (oder Angriffe) gegen Juden. Diese Zahlen sind gegenüber der Zeit vor dem 7. Oktober leider stabil geblieben.

Auch die Zahl der antimuslimischen und antiarabischen Angriffe hat zugenommen. Vom 7. Oktober bis zum 1. November wurden zehn Angriffe auf Moscheen gemeldet, denen weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Weizman:

Ich wurde eingeladen, am vergangenen 9. November, dem Tag des Gedenkens an die Pogromnacht und den Beginn des Holocaust, auf einer öffentlichen Veranstaltung zu sprechen. Es war schwer, vor einem deutschen Publikum zu sprechen. Ich war wütend und beunruhigt über die Tatsache, dass der Deutsche Bundestag an diesem Tag versuchte, eine neue Reihe von Gesetzen zu verabschieden (die vorübergehend verschoben wurden, aber immer noch über dem Land schweben), die angeblich das jüdische Leben in Deutschland schützen sollen, in Wirklichkeit aber dazu dienen, die deutsche Öffentlichkeit weiter zu untergraben, palästinensische Stimmen zu unterdrücken und arabische, muslimische und nicht-weiße Menschen in Deutschland zu Verdächtigen zu machen. Zwei Jahre nach der Eröffnung von Forensis, der Schwesteragentur von FA in Berlin, habe ich öffentlich Zweifel daran geäußert, ob Deutschland ein Ort ist, an dem wir weiterarbeiten können.

Sicherlich gibt es Antisemitismus in Deutschland. Offizielle Statistiken zeigen, dass die meisten antisemitischen Straftaten im Land von weißen Neonazis begangen werden, die weiterhin unter dem Schutz der Polizei, deren Reihen sie infiltriert haben, durch die Straßen Deutschlands ziehen. Die Alternative für Deutschland (AfD) sitzt im Bundestag, während der deutsche Staat sowohl Palästinenser_innen als auch Jüdinnen und Juden, die sich für die Befreiung Palästinas einsetzen, ins Visier nimmt. Auch die Identität von Juden in der Diaspora, die aktiv nicht- oder antizionistisch sind, ist bedroht.

Mein Vortrag fand in einer Woche statt, in der andere Symposien und akademische Veranstaltungen, an denen ich teilnehmen sollte, abgesagt oder “verschoben” wurden, weil man befürchtete, dass wir öffentlich unsere Unterstützung für die palästinensische Befreiung bekunden würden. Personen, die unserem Team nahestehen, wurden von den staatlichen Behörden mit Abschiebung bedroht. Erst kürzlich wurde das Haus eines Überlebenden des rechtsextremen Terroranschlags in Hanau, mit dem wir eng zusammenarbeiteten, von der Polizei wegen pro-palästinensischer Aktivitäten durchsucht.

Kürzlich habe ich mit einem palästinensischen Menschenrechtsaktivisten gesprochen, der sicherlich kein Freund der Hamas ist. Er erzählte mir, dass er sich als Palästinenser gezwungen sieht, seine Verurteilung der Anschläge proaktiv zum Ausdruck zu bringen, wie eine Online-Seite, die einen auffordert “zu beweisen muss, dass man kein Roboter ist”. Als er aufgefordert wurde, seine Menschlichkeit auf diese entmenschlichende Weise unter Beweis zu stellen, indem er Mordtaten, die er ohnehin verabscheute, ausdrücklich verurteilte, lehnte er die Frage zu Recht als rassistisch ab. Diese Fragen werden arabischen Migrant_innen gestellt, nicht weißen Deutschen.

Das Paradoxe ist, dass der unbewaffnete Widerstand gegen Israels Besatzung und Apartheid kriminalisiert wird. Die Kriminalisierung dieser Mittel des unbewaffneten Widerstands ist falsch und dumm. Erwarten wir von den Palästinenser_innen, dass sie sich stillschweigend den Bombardierungen, der Einebnung, der Vertreibung und der Erniedrigung unterwerfen? Dass sie einfach akzeptieren, dass ihr Leben nicht lebenswert ist?

Diese Politik ist, um es klar zu sagen, mit der Förderung von Deutschlands eigener Haltung zur Migration verbunden – gerechtfertigt wird sie aber mit der angeblichen Sicherheit der Juden in Deutschland. Die kollektive Schuld des deutschen Volkes am Holocaust drückt sich in Islamophobie und Rassismus aus – und wird nun auf politischer Ebene in unserem Namen umgesetzt. Im Namen des jüdischen Volkes im Allgemeinen und im Namen derjenigen von uns, die in Deutschland arbeiten, im Besonderen. Eine der Tragödien dabei ist, dass die deutsche Haltung gegenüber Juden gerade jetzt eine wichtige positive und ergreifende schmerzliche Dimension hätte haben können. In einer Zeit, in der sich Juden verletzlich und oft allein fühlen, könnten die Deutschen auf vielen Ebenen der Gesellschaft an ihrer Seite stehen. Indem sie jedoch jüdische Menschen zum erklärten Grund für die Unterdrückung muslimischer Migrant_innen in Deutschland machen, machen sie uns verletzlicher, nicht sicherer.

Die deutsche Intervention verstärkt sowohl den Antisemitismus als auch die Islamophobie, und die Zunahme von Hassverbrechen gegen Juden/Jüdinnen und Muslim_innen ist die direkte Folge. In Deutschland wie auch anderswo ist die Sicherheit von Jüdinnen/Juden und Palästinenser_innen voneinander abhängig.

Prochnik:

Das erinnert mich an eine berühmte Antwort des deutsch-jüdischen Schriftstellers Heinrich Heine aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf einen antisemitischen Ausbruch eines deutschen Jugendlichen. Ich zitiere ins Unreine: „Wie töricht und blasphemisch klingen deine Worte, während meine Seele die ganze Welt mit Liebe umarmt. Wenn ich in überwältigender Freude Türken und Russen umarmen, mich weinend an die Brust meines Bruders, des geknechteten Afrikaners, werfen wollte! Ich liebe Deutschland und die Deutschen, aber nicht minder liebe ich die Bewohner anderer Teile der Erde, deren Zahl vierzigmal größer ist als die der Deutschen”. Mit Berufung auf den versklavten Afrikaner signalisiert Heine, dass die Freiheit aller Völker der Welt zusammen steht und fällt, und er sah die Stellung von Juden/Jüdinnen und Muslim_innen in Europa als besonders verflochten an.

Was sind Ihrer Meinung nach die ersten Schritte, die wir unternehmen sollten, damit die zerbrechliche jüdisch-palästinensische Solidarität in Berlin und anderswo wiederhergestellt werden kann?

Weizman:

Vielleicht müssen wir uns jetzt mit der Zerstörung einer gewissen Hoffnung auf eine neue Form des kollektiven jüdischen Lebens auseinandersetzen, die in Berlin entstanden ist und über die Emily und ich im ersten Interview gesprochen haben. Diese experimentelle Gemeinschaft, auf die ich gehofft hatte, hat sich nicht so entwickelt, wie wir erwartet hatten. Ich hatte mir früher vorgestellt, dass die meisten Israelis, die jetzt in Berlin leben, gerade deshalb hier sind, weil sie einen Weg zu ihrer jüdischen Identität finden wollen, der die Definitionsversuche des Staates Israel umgeht. Viele dieser Israelis, die in Berlin leben, vertreten jetzt eine harte Linie, die sich mit den Positionen der Israelis in Israel deckt.

Prochnik:

Mir ist aufgefallen, dass die Menschen auf beiden Seiten des Konflikts ein unglaubliches Gefühl der Verlassenheit empfinden, obwohl es offensichtlich intensive Wellen der Verbundenheit innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften von Juden/Jüdinnen und Muslim_innen gegeben hat. Es ist klar, dass Stammessolidarität psychologisch unzureichend für die aktuelle Krise ist, und der einzige Weg aus dieser gemeinsamen Isolation wird darin bestehen, dass die Menschen sich über ethnische/nationale/religiöse Grenzen hinweg gehört oder umarmt fühlen.

Dische-Becker:

Ein Teil der Frustration über die heutige Situation in Deutschland ist die Zerrissenheit, die aus dem 7. Oktober resultiert – die unvereinbare Subjektivität der Menschen, die zwei unterschiedliche gewaltsame Ereignisse betrauern. Diese beiden Formen der Trauer fühlen sich diametral entgegengesetzt, so dass sich ein Nullsummenspiel ergibt. Die Bindungen zwischen Menschen aus verschiedenen Gemeinschaften, die seit langem zusammenarbeiten, sind brüchig. Viele von ihnen versuchen nun, diese Bande zu kitten, aber die deutsche politische Klasse ist wild entschlossen, Öl ins Feuer zu gießen, indem sie die Anerkennung der Realität einer Seite gänzlich verweigert. Schon vor dem 7. Oktober sind wir darauf reduziert worden, verteidigen zu müssen, dass wir überhaupt Gespräche führen wollen und einen Raum für solche Gespräche benötigen.

Prochnik:

Können Sie Beispiele für Diskussionsfelder nennen, die Ihrer Meinung nach im öffentlichen Diskurs bisher gefehlt haben?

Dische-Becker:

Generell sind die Gespräche, die Jüdinnen/Juden und Palästinenser_innen unter vier Augen führen, einfach nicht möglich, wenn erwartet wird, dass die Gespräche nach deutschen diskursiven Erwartungen ablaufen. Es werden „rote Linien“ vorgegeben, die ganz bestimmt der internationalen Wissenschaft und dem Stand der innerjüdischen Debatten in der Welt zuwiderlaufen. Nach den Förderrichtlinien des Auswärtigen Amtes für internationale Kulturprogramme darf der Begriff “Apartheid” nicht erwähnt werden. Wie soll man international ein Gespräch führen, wenn schon die Bedingungen für eine Diskussion voraussetzen, dass wir das, was die meisten großen Menschenrechtsorganisationen der Welt als in den Besetzten Gebieten für gegeben annehmen, nicht benennen dürfen?

Das bedeutet also, dass wir keine interessanten oder kritischen Gespräche über jüdischen Nationalismus und palästinensischen Nationalismus führen können – um zu diskutieren, wie die Visionen für eine gemeinsame Zukunft aussehen könnten. Das sind Themen, die sehr wohl Teil der Gespräche sind, die ich privat mit meinen Freunden führe und die anderswo geführt werden. Das bedeutet aber auch, dass wir nicht darüber sprechen dürfen, wie eine authentische Koexistenz im Einzelnen aussehen könnte. Ich bekomme Anfragen von Leuten, die sagen: “Dieser Politiker würde gerne Israelis und Palästinenser_innen treffen, die in Berlin zusammenarbeiten. Gibt es Leute, die das tun?“ Und ich möchte sie einfach anschreien, weil sie genau diese Initiativen dämonisiert und kriminalisiert haben, indem sie sich geweigert haben, Palästinenser_innen einzubeziehen, die für einen gewaltlosen Boykott Israels eintreten. Das war die Bedingung für die Teilnahme, obwohl die einzige Bedingung eigentlich ein Engagement für die Koexistenz in Deutschland sein sollte.

Prochnik:

Sie schlagen also vor, dass die notwendigen Gespräche auf einer Ebene unterhalb der des expliziten, staatlich sanktionierten öffentlichen Diskurses stattfinden müssen?

Dische-Becker:

Ja. Es gibt sehr wohl Räume, die es uns auch heute noch ermöglichen, Gespräche zwischen israelischen und palästinensischen Aktivist_innen, Kulturschaffenden usw. zu führen. Aber es sind sehr geschlossene Räume. Die großen Kulturinstitutionen wissen nicht mehr, was sie tun sollen, und sagen die Veranstaltungen einfach ab. Innerhalb des deutschen Mainstream-Kulturbereichs muss unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet sein, ein deutsches Verständnis anzusprechen, dem es an Komplexität fehlt, oder? Allein die Tatsache, dass man jetzt, wenn man „Kontext“ sagt, als antisemitisch aufgefasst werden kann, ist ein Armutszeugnis für den Diskurs. Selbst der Begriff “Komplexität” wird schon als etwas eingestuft, für das die Zeit nicht reif ist. Ambivalenz gilt als antisemitisch! Die ältesten und reichsten Traditionen jüdischen Denkens werden nun in Deutschland als antisemitisch positioniert. Wir müssen den mentalen und physischen Raum finden, um die Gespräche zu führen, die wichtig sind, damit wir über die schädlichen Frömmigkeiten überwinden können.

Prochnik:

Deckt sich das mit Ihren jüngsten Erfahrungen beim Aufbau von Beziehungen zu palästinensischen Aktivist_innen, Eyal?

Weizman:

Seit dem 7. Oktober haben sich unter dem Radar tiefe und bedeutungsvolle Gespräche über Solidarität und Fürsorge entwickelt. Am späten Morgen des 7. Oktober traf ich mich in London mit einer Gruppe palästinensischer Freunde, um gemeinsam die Auswirkungen zu überlegen, die Nachrichten in allen Sprachen zu lesen und mit Menschen, die wir kannten, in Kontakt zu treten. Wir wollten auch herausfinden, wie wir auf die Geschehnisse reagieren sollten. Es war ein sonniges Wochenende in London. Wir saßen draußen. Jeder von uns hatte sein Handy dabei und war mit Dutzenden von Menschen in der Region verbunden. Meine Tochter erhielt unterdessen von ihren eigenen Kontakten entsprechende Nachrichten. Einen Tag später erfuhr sie, dass sie bei dem Massaker tatsächlich Freund_innen verloren hatte. Viele meiner palästinensischen Freund_innen haben sich gemeldet, um sie zu unterstützen und sich nach der Sicherheit meiner Familie zu erkundigen. Das war sehr bewegend. Palästinenser_innen aus der ganzen Diaspora und aus Palästina, dem Westjordanland, haben sich um sie gekümmert. Das hat etwas sehr Palästinensisches. Sobald sich in der Region ein gewaltsames Ereignis ereignet, rufen sich die Menschen gegenseitig an, um sich gegenseitig zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. In unserer kleinen Gemeinschaft von Aktivist_innen für die Befreiung Palästinas gibt es echte Solidarität, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat und die Spaltungen überwindet.

Prochnik:

Das ist sehr bewegend. Eine Frage, die sich mir im Zusammenhang mit dem vorhin Gesagten stellt, ist: Was können wir tun, um diese Gemeinschaft zu vergrößern? Was sind Ihre Prioritäten jetzt?

Weizman:

Wir alle in der Diaspora müssen jetzt dringend einen sofortigen, dauerhaften Waffenstillstand und die Freilassung aller Gefangenen auf beiden Seiten fordern. Wir müssen vermitteln, dass die israelische Armee ihre Ehre nicht durch Massaker an Palästinenser_innen wiederherstellen kann. Sie kann ihre Gefangenen nicht mit militärischer Gewalt zurückbringen, sie kann die Hamas nicht auflösen. Die Hamas ist nicht nur eine militärische Gruppe, sie ist auch eine Zivilgesellschaft in Gaza – das ist eine grundlegende soziologische Tatsache. Sie erfüllt Funktionen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Religion und Gemeinwesen – und in diesen Bereichen ist sie ein Teil des Kittes, der die Gesellschaft zusammenhält. Die Zerstörung der Hamas bedeutet die Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen und Moscheen – des zivilen Gefüges. Der Krieg, den Israel jetzt führt, ist ein Versuch, dieses Band zu zerreißen und den Kitt zu zerstören – die Menschen zu atomisieren. Israel behauptet, die zivilen Opfer seien Kollateralschäden bei seinem Versuch, militärische Ziele zu treffen. Aber der “Kollateralschaden” ist hier das Ziel – es scheint, dass Israel versucht, systemische Schäden zu verursachen. Kollektive Bestrafung. Auslöschung. Rache. Blut für Blut. Krankenhäuser und Schulen werden angegriffen. Der größte Teil der Bevölkerung wurde vertrieben. Das sind die Dinge, die wir meinen, wenn wir rufen: “Stoppt den Völkermord”.

Meine Energie gilt jetzt der Solidarität mit den Überlebenden. Wir müssen dazu beitragen, dass Ain Media wiederaufgebaut wird. Wir setzen unsere Mission fort und halten unser Team zusammen. Wir sind als Organisation verwundet. Zu Hause ist es schwer. Es ist schwer bei der Arbeit. Manchmal habe ich das Gefühl, dass zwei Herzen in meiner Brust schlagen.

Aber es gibt in London und auch immer noch hier in Berlin einen Raum, in dem Juden und Jüdinnen, einschließlich Israelis, und Araber_innen, einschließlich Palästinenser_innen, die an die palästinensische Befreiung glauben, das Gerüst einer neuen Gemeinschaft aufbauen könnten. Dieser Raum ist bedroht, aber es finden immer noch sinnvolle Gespräche statt. Wenn die Solidarität die Schwelle der Sichtbarkeit überschreitet und in einer Petition oder einem Plenum mündet, wird sie für die Behörden lesbar und kann zerschlagen werden.

Wenn sie vorbei ist und wir auf den Trümmern sitzen, müssen wir anfangen, nachzudenken und neu aufzubauen. Intellektuelle und Künstler_innen müssen gegen alle Widerstände zivile Räume schaffen und Dinge äußern, die sonst tabu sind – gerade jetzt, trotz des Risikos, sanktioniert zu werden. Der “Tag danach” wird nicht anders sein als der Tag davor, wenn wir uns nicht mit der Frage der palästinensischen Befreiung und Gleichberechtigung auseinandersetzen. Dass die Palästinenser_innen Rechte über Palästina haben? Das ist keine Frage – es ist das Ziel unseres Kampfes. Eine andere Frage ist: “Welche Rechte haben die Juden und Jüdinnen in Palästina?

George Prochnik

George Prochnik wurde 2021 mit einem Guggenheim-Stipendium für allgemeine Sachbücher ausgezeichnet. Er hat für Publikationen wie den New Yorker und die LA Review of Books geschrieben und ist leitender Redakteur des Cabinet Magazine. „Talk America” ist ein Auszug aus dem Buch I Dream with Open Eyes, das demnächst bei Counterpoint Press erscheint. Zu seinen Büchern bei Granta gehören Stranger in a Strange Land: Auf der Suche nach Gershom Scholem und Jerusalem, das auf der Shortlist für den Wingate Prize stand und von der New York Times als “Editor’s Choice” ausgezeichnet wurde.

Emily Dische-Becker

Emily Dische-Becker ist Autorin, Organisatorin und Kuratorin sowie Forscherin für Forensis/Forensic Architecture und lebt in Berlin. Sie ist Mitglied des Lenkungsausschusses der Jerusalem Declaration on Antisemitism und Deutschlanddirektorin der Diaspora Alliance. Sie war Beraterin für öffentliche Programme auf der Documenta fünfzehn und hat kürzlich eine internationale Konferenz mit dem Titel “Hijacking Memory: The Holocaust and the New Right” in Berlin mitorganisiert.

Eyal Weizman

Eyal Weizman ist ein britisch-israelischer Architekt. Er ist Gründer und Direktor von Forensic Architecture, Generalsekretär von Forensis e. V. und Professor für Raum- und Bildkulturen an der Goldsmiths University of London. Zu seinen Büchern gehören Hollow Land, Investigative Aesthetics, The Roundabout Revolutions, The Conflict Shoreline und Forensic Architecture.