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Ilan Pappe: Israels jüngster Versuch, Palästina auszulöschen

Der Versuch, offizielle Dokumente der ethnischen Säuberung von Palästinensern 1948 zu unterdrücken, ist nicht neu.

Aber die Bemühungen von Teams des israelischen Verteidigungsministeriums, sensible Dokumente aus israelischen Archiven zu entfernen – wie kürzlich von Haaretz berichtet–, müssen in einem neuen politischen Umfeld verstanden werden und nicht bloß als ein Versuch, israelischen Regierungen eine Bloßstellung zu ersparen.

Wer von uns mit Nakba-Dokumenten arbeitet – Nakba meint „Katastrophe“ und ist der Begriff, den Palästinenser verwenden für die 1948 geschehene Vertreibung von etwa 800.000 Menschen von ihrem Grund und Boden und ihren Wohnungen dort, wo inzwischen Israel ist –, war sich bereits über die Beseitigung dieser Dokumente im Klaren. Viele Jahre lang waren zum Beispiel Historiker nicht in der Lage „die Dorf- Dossiers“ noch einmal einzusehen, die für meine These, dass der Krieg von 1948 ein Akt ethnischer Säuberung war, einen wichtigen Beweis abgaben.

Einige von den wichtigen Materialien, die Benny Morris bezüglich der Massaker von Deir Yassin und al-Dawayima heranzog, standen ebenfalls nicht mehr zur Verfügung. Sie alle schildern eine wahrhaftigere israelische Version der Ur-sachen, die zum sogenannten „palästinensischen Exodus“ von 1948 geführt haben.

Warum werden diese Akten jetzt versteckt?  2016 vermutete die Journalistin Lisa Goldman, dass der Grund darin lag, dass die Arbeiten der „neuen Historiker“ die Regierung in Verlegenheit bringen und Israels internationalen Ruf beschädigen würden.

Die Dokumente stellten natürlich die offizielle israelische Version einer frei-willigen Flucht der Palästinenser infrage und enthüllten Kriegsverbrechen zionistischer und später israelischer Streitkräfte.

Ich denke aber, dass die Gründe viel tiefer liegen und alarmierend sind. Sie sind Teil eines neuen Angriffs auf Palästina und die Palästinenser.

Entpolitisierung der Palästina-Frage

Wir müssen den Versuch, diese Archive zu zensieren, in zwei Kontexten betrachten: dem politischen und dem historischen.

Politisch muss die Beseitigung dieser Dokumente als Teil einer globalen amerikanisch-israelischen Initiative (oder zumindest Tendenz) gesehen werden, die „palästinensische Frage“ zu entpolitisieren.

In Israel begann dies mit Benjamin Netanyahus Ideen hinsichtlich eines „wirtschaftlichen Friedens“, des Versuchs, Palästinenser dazu zu bewegen, ihre politischen Rückkehrforderungen im Tausch für eine bessere wirtschaftliche Realität aufzugeben.

Das ging weiter mit dem Nakba- Gesetz, das öffentlichen Einrichtungen und Institutionen, die der Ereignisse von 1948 als einer Katastrophe gedenken, jegliche staatliche Förderung strich.

Ein wichtiger Teil dieser Strategie umfasst die israelischen Aktionen vor Ort – die Siedlungsexpansion, Häuserzerstörungen, die Beseitigung von Dörfern, die uns der offiziellen Annexion der Zone C – ungefähr 60% des Westjordanlandes – und der Errichtung kleiner (palästinensischer) Bantustans dort und im Gazastreifen näherbringt.

Einige israelische Politiker und Funktionäre haben ganz offen den Wunsch geäußert, das ganze Westjordanland oder Teile davon zu annektieren, natürlich auch der Premierminister selbst.

Schließlich ist da das israelische Nationalstaatsgesetz, das 2018 verabschiedet wurde. Dieses Gesetz konsolidierte Israel als Apartheid-Staat.

Ein spezieller Paragraf in diesem Gesetz ist für unsere Diskussion relevant: er legt fest, dass „einzig und allein“ das jüdische Volk das Recht auf nationale Selbstbestimmung im Land hat.

Auf amerikanischer Seite hat die Trump-Administration inzwischen eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die den israelischen Versuch ergänzen, Palästina als politische Frage und die Palästinenser als eine nationale Bewegung auszulöschen.

Zu diesen Maßnahmen gehört die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv dorthin; die Beendigung der finanziellen Unterstützung der UNRWA, der UN-Körperschaft, die palästinensische Flüchtlinge versorgt; die Entfernung der PLO-Vertreter (bzw. ihrer Delegation) in Washington sowie eine Bahrain-Konferenz mit dem Fokus auf finanzielle Anreize für die Palästinenser ohne Erwähnung irgendwelcher politischer Rechte.

Gemeinsam laufen die israelische und die amerikanische Kampagne auf einen neuen Angriff auf Palästina und die Palästinenser hinaus. Die Palästinenser sind derzeit sehr verwundbar: arabische Regime lassen sie im Stich, die Elite der internationalen Gemeinschaft ist gleichgültig, und die Palästinenser selbst sind gespalten zwischen Hamas und Fatah.

Eliminierung der Einheimischen

Israelische und amerikanische Pläne in Kombination mit der Verletzlichkeit, der Schutzlosigkeit der Palästinenser bringen uns an einen gefährlichen historischen Punkt. Israel ist jetzt in einer Lage, in der es wieder einmal versucht, entsprechend der Logik der „Eliminierung der Einheimischen“ vorzugehen (so die Charakterisierung der Motive siedlerkolonialistischer Bewegungen wie auch des Zionismus durch den Anthropologen Patrick Wolfe).

Israel war 1948 bei der Verwirklichung dieses Ziels nur teilweise erfolgreich. Die palästinensische Nationalbewegung kämpfte damals mit Erfolg gegen die Vollendung der ethnischen Säuberung von 1948, und sie führt den Kampf jetzt weiter. Aber dies ist ein schwieriger Augenblick. Im Ausland haben sich die Bemühungen, Israel vor Kritik schützen, intensiviert. Pro-palästinensische Politiker werden als Antisemiten diffamiert. In verschiedenen Ländern werden Gesetze verabschiedet, um Israel vor Kritik und Aktivismus einschließlich Boykott zu schützen.

Die Beseitigung von Archivmaterial und die mögliche Vernichtung von Dokumenten enthüllt die tiefer liegenden ideologischen Motive hinter diesem gegenwärtigen Angriff auf Palästina und die Palästinenser.

Inwieweit hat dies unsere Fähigkeit beeinträchtigt, das, was in der Nakba geschehen ist, zu rekonstruieren und ihre Bedeutung für heute einzuschätzen?

In vielerlei Hinsicht waren wir schon an diesem Punkt. Israel raubte etwa im Oktober 1982 die PLO-Archive und zerstörte einen Teil davon, nahm einiges davon nach Israel mit und gab einen kleinen Teil zurück.

2001 führte Israel im Orient-Haus in Ost-Jerusalem eine Razzia durch und stahl die dortigen Archive.

Jetzt plündert Israel seine eigenen Archive, um sie von Beweisen für seine Verbrechen in der Vergangenheit zu säubern.

Wird das unsere Fähigkeit, die Vergangenheit zu rekonstruieren, beeinträchtigen? Einerseits nein. Die palästinensischen Flüchtlinge brauchten nach 1948 keine israelischen „neuen Historiker“, um von ihnen zu erfahren, dass sie Opfer einer ethnischen Säuberung waren.

Andererseits sind Archivbeweise dennoch nötig, um Absicht und Planung hinter dem Verbrechen offenzulegen und für die Kontextualisierung der Vergangenheit in einem umfassenderen Verständnis der Natur der zionistischen Bewegung und Israels.

Für beide Zwecke genügen bereits eingesehene und vielfach gescannte und für die Nachwelt digitalisierte Dokumente, um die ideologische Absicht der Zionisten hinter dem Versuch der Eliminierung der Palästinenser 1948 und danach zweifelsfrei zu beweisen.

Obwohl es kein einzelnes eindeutiges Dokument für die volle Absicht hinter der ethnischen Säuberung gibt – wenngleich, wie der Wissenschaftler Walid Khalidi bemerkt, ein als Plan D bekanntes Papier dem sehr nahe kommt, gibt es genügend Dokumente, die zusammengenommen das von Israel an den Palästinensern verübte Verbrechen gegen die Menschlichkeit offenbaren.

Auslöschung Palästinas

Je weiter wir uns ab 1948 in der Zeit vorwärtsbewegen, umso leichter ist die Information zugänglich und jeder Versuch, sie zu vernichten oder zu verstecken, zum Scheitern verurteilt. Studenten, Historiker, Experten und Aktivisten können das Muster der Gewalt, die Israel den Palästinensern zugefügt hat und weiter zufügt, eindeutig erkennen (in dieser Hinsicht erinnert man sich an eine andere Anmerkung von Patrick Wolfe, dass Siedlerkolonialismus kein Geschehen, sondern eine Struktur ist).

Gleichwohl liegen die Ursprünge dieser strukturellen Gewalt in der Nakba, und deshalb ist ihre Dokumentation so wichtig. Es ist dieser Ursprung, der die israelische Politik seit 1948 erklärt: die Einsetzung einer Militärherrschaft über die Palästinenser in Israel bis 1966 und deren Übergang auf das besetzte Westjordan-land und den Gazastreifen 1967; die Judaisierungspolitik der Enteignung von Land und der Vertreibung in Galiläa, dem Gebiet von Jerusalem und der Naqab-Wüste (Negev); die brutale Niederschlagung der beiden Intifadas; die Zerstörung des südlichen Libanons 1982 und 2006 und schließlich die unmenschliche Belagerung des Gazastreifens.

Diese ganze verbrecherische Politik kann ohne Freigabe israelischer Dokumente nachgewiesen werden, ist aber besser historisiert und kontextualisiert, wenn sie von Dokumenten unterstützt wird, die zeigen, wie – speziell im Falle Israels – „die Logik der Eliminierung der Einheimischen“ in die Tat umgesetzt wurde.

Wir müssen „indikative“ [hinweisende] Dokumente, wie ich sie nennen möchte, sammeln und veröffentlichen, die einem eindeutigen Beweis für die Absicht, die Unmenschlichkeit und den Zweck der ethnischen Säuberung von 1948 nahe-kommen. Ich habe mehrere dieser Dokumente auf meine öffentliche Facebook-Seite gestellt, aber wir brauchen ordentliche Archive, die vor einem Staat und einer internationalen Koalition geschützt werden, die Palästina aus unserer historischen Erinnerung löschen und auf eine wirtschaftliche Frage reduzieren wollen.

Dies ist nicht der erste und auch nicht der letzte Versuch, Palästina auszulöschen. Manchmal bleiben diese Versuche dem Auge verborgen, sind aber dennoch höchst bedeutsam und können nur von professioneller Geschichtsschreibung nachverfolgt werden.

Im März 1964 forderte Israel, dass amerikanischen Staatsbürgern, die Pässe mit der Angabe „Palästina“ besaßen, neue Pässe ohne diese Angabe ausgestellt werden sollten. „Wir werden Pässe mit „Palästina“ als Ort der Zuordnung nicht mehr verwenden und mit dem Stempel „Palästina“ versehene Pässe nicht mehr erneuern oder ergänzen“, informierte ein Telegramm die US-Botschaft in Jerusalem.

Aber Palästina ist keine Bestimmung [designation] und auch kein Ort der Zuordnung, der nur in geöffneten oder verschlossenen Archiven existiert. Es ist ein reales Land unter Kolonisation und Besatzung. Wir sollten uns alle bemühen, seine Geschichte zu erzählen, da sie die Gegenwart erklärt und unsere Zukunft beeinflusst.

Ilan Pappe ist Autor zahlreicher Bücher, Professor von Geschichte und Direktor des Europäischen Zentrums für Palästinensische Studien an der Universität von Exeter.

 

Israel’s latest attempt to erase Palestine Ilan Pappe The Electronic Intifada 25 July 2019

Übersetzung: Karin Nebauer und Jürgen Jung