Ein Völkermord wie aus dem Lehrbuch
Israel war eindeutig in dem, was es in Gaza zu tun gedenkt. Warum hört die Welt nicht zu?
13.Oktober 2023 / Raz Segal
Am Freitag wies Israel die belagerte Bevölkerung an die nördliche Hälfte des Gazastreifens zu räumen und in den Süden umzusiedeln, und warnte, dass es seine Angriffe auf die nördliche Hälfte des Streifens bald verstärken würde. Mehr als eine Millionen Menschen, die Hälfte davon Kinder, versuchen seither verzweifelt, vor den anhaltenden Luftangriffen in dieser ummauerten Enklave zu fliehen, in der es keine sicheren Zufluchtsorte gibt. Die palästinensische Journalistin Ruwaida Kamal Amer schrieb heute aus Gaza: „Geflüchtete aus dem Norden kommen bereits in Khan Younis an, wo die Raketen nie aufhören und uns die Lebensmittel, das Wasser und der Strom ausgehen.“ Die UNO hat davor gewarnt, dass die Flucht der Menschen aus dem nördlichen Teil des Gazastreifens in den Süden „verheerende humanitäre Folgen“ nach sich ziehen und „eine bereits bestehende Tragödie in eine katastrophale Situation verwandeln“ wird. In der letzten Woche hat die israelische Gewalt gegen den Gazastreifen mehr als 1.800 Palästinenser*innen getötet, tausende verletzt und mehr als 400.000 Menschen innerhalb des Streifens vertrieben. Und dennoch versprach der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu heute, dass das, was wir gesehen haben, „erst der Anfang“ sei.
Israels Kampagne zur Vertreibung der Bewohner*innen des Gazastreifens – und möglicherweise zu ihrer vollständigen Ausweisung nach Ägypten – ist ein weiteres Kapitel der Nakba, bei der schätzungsweise 750.000 Palästinenser*innen während des Krieges von 1948, der zur Gründung des Staates Israel führte, aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Der Angriff auf den Gazastreifen kann aber auch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden: als ein Lehrbuchfall von Völkermord, der sich vor unseren Augen abspielt. Ich sage dies als Wissenschaftler in der Völkermordforschung, der viele Jahre lang über die israelische Massengewalt gegen Palästinenser*innen geschrieben hat. Ich habe über den Siedlerkolonialismus und die jüdische Vorherrschaft in Israel geschrieben, über die Verzerrung des Holocaust, um die israelische Rüstungsindustrie anzukurbeln, über die Verwendung von Antisemitismusvorwürfen als Waffe zur Rechtfertigung israelischer Gewalt gegen Palästinenser*innen und über das rassistische Regime der israelischen Apartheid. Jetzt, nach dem Angriff der Hamas am Samstag und dem Massenmord an mehr als 1.000 israelischen Zivilist*innen, ist das Schlimmste vom Schlimmsten eingetreten.
Nach internationalem Recht wird das Verbrechen des Völkermords definiert als „die Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, wie es in der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom Dezember 1948 heißt. Bei seinem mörderischen Angriff auf Gaza hat Israel diese Absicht lautstark verkündet. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant erklärte am 9. Oktober unmissverständlich: „Wir verhängen eine vollständige Belagerung über Gaza. Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Treibstoff. Alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir werden entsprechend handeln.“ Führende westliche Politiker*innen verstärkten diese rassistische Rhetorik, indem sie den Massenmord der Hamas an israelischen Zivilist*innen – ein Kriegsverbrechen nach internationalem Recht, das in Israel und in der ganzen Welt zu Recht Entsetzen und Schock auslöste – als einen „Akt des schieren Bösen“ bezeichneten, wie US-Präsident Joe Biden sagte, oder als einen Schritt, der ein „uraltes Übel“ widerspiegelt, wie es die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen ausdrückte. Diese entmenschlichende Sprache dient eindeutig dazu, die weitreichende Zerstörung palästinensischen Lebens zu rechtfertigen; die Behauptung des „Bösen“ verwischt in ihrer Absolutheit die Unterscheidung zwischen militanten Hamas-Kämpfer*innen und der Zivilbevölkerung des Gazastreifens und verdeckt den breiteren Kontext von Kolonisierung und Besatzung.
Die UN-Völkermordkonvention listet fünf Handlungen auf, die unter ihre Definition fallen. Israel begeht derzeit drei dieser Handlungen in Gaza: „1. Tötung von Mitgliedern der Gruppe. 2. Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe. 3. Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“. Die israelische Luftwaffe hat nach eigenen Angaben bisher mehr als 6.000 Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen, der eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt ist – fast so viele Bomben, wie die USA in den rekordverdächtigen Jahren ihres Krieges auf ganz Afghanistan abgeworfen haben. Human Rights Watch hat bestätigt, dass zu den eingesetzten Waffen auch Phosphorbomben gehörten, die Körper und Gebäude in Brand setzen und Flammen erzeugen, die auch bei Kontakt mit Wasser nicht gelöscht werden können. Dies zeigt deutlich, was Gallant mit „entsprechend handeln“ meint: nicht auf einzelne Hamas-Kämpfer*innen zielen, wie Israel behauptet, sondern tödliche Gewalt gegen die Palästinenser*innen in Gaza „als solche“ entfesseln, in der Sprache der UN-Völkermordkonvention. Israel hat außerdem seine 16-jährige Belagerung des Gazastreifens – die längste in der modernen Geschichte – unter klarer Verletzung des humanitären Völkerrechts zu einer „vollständigen Belagerung“, wie Gallant es ausdrückt, verschärft. Diese Wendung deutet ausdrücklich auf den Plan hin, die Belagerung zu ihrem endgültigen Ziel der systematischen Zerstörung der Palästinenser*innen und der palästinensischen Gesellschaft im Gazastreifen zu bringen, indem man sie tötet, aushungert, sie von der Wasserversorgung abschneidet und ihre Krankenhäuser bombardiert.
Nicht nur die israelische Führung bedient sich solcher Worte. Ein Interviewpartner des pro-Netanjahu-Kanals 14 forderte Israel auf, „Gaza in Dresden zu verwandeln“. Kanal 12, der meistgesehene Nachrichtensender Israels, veröffentlichte einen Bericht über linksgerichtete Israelis, die dazu aufriefen, „auf dem zu tanzen, was einmal Gaza war“. Inzwischen sind völkermörderische Formulierungen-Aufrufe zur „Auslöschung“ und „Plattmachung“ des Gazastreifens – in Israels sozialen Medien allgegenwärtig. In Tel Aviv wurde ein Banner mit der Aufschrift „Zero Gazans“ (Null Gazaner*innen) an einer Brücke aufgehängt.
Der völkermörderische Angriff Israels auf den Gazastreifen ist in der Tat ziemlich eindeutig, offen und schamlos. Täter*innen von Völkermord äußern ihre Absichten in der Regel nicht so deutlich, obwohl es Ausnahmen gibt. Im frühen 20. Jahrhundert verübten die deutschen Kolonialherren beispielsweise einen Völkermord als Reaktion auf einen Aufstand der indigenen Herero und Nama in Südwestafrika. Im Jahr 1904 erließ der deutsche Militärbefehlshaber, General Lothar von Trotha, einen „Ausrottungsbefehl“, der mit einem „Rassenkrieg“ begründet wurde. Bis 1908 hatten die deutschen Behörden 10.000 Nama ermordet und ihr erklärtes Ziel der „Vernichtung der Herero“ erreicht, indem sie 65.000 Herero, 80 % der Bevölkerung, töteten. Gallants Befehle vom 9. Oktober waren nicht weniger eindeutig. Israels Ziel ist es, die Palästinenser*innen in Gaza zu vernichten. Und wir, die wir auf der ganzen Welt zusehen, werden unserer Verantwortung nicht gerecht, sie daran zu hindern.
Berichtigung: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Israel habe in dieser Woche mehr Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen als die USA in jedem einzelnen Jahr ihres Krieges in Afghanistan. Tatsächlich haben die USA sowohl 2018 als auch 2019 mehr als 7.000 Bomben auf Afghanistan abgeworfen; zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte Israel in weniger als einer Woche schätzungsweise 6.000 Bomben auf Gaza abgeworfen.
Raz Segal ist außerordentlicher Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Universität Stockton und Stiftungsprofessor für die Erforschung neuzeitlicher Völkermorde.
Deutsche Übersetzung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes im Bundesgesetzblatt vom 9. August 1954 / S. 730